Die Belegung von „Haus Pohle” mit Flüchtlingen hatte die Schildgener überrollt. Aber innerhalb weniger Wochen stand die Initiative „Willkommen in Schildgen“. Sie hatte nicht nur mit Deutschkursen und Patenschaften zu tun, sondern auch mit Sorgen und Vorurteilen der Schildgener. Teil zwei der Spurensuche vor Ort.
Schon Ende Oktober 2015 gaben die ersten Ehrenamtler von „Willkommen in Schildgen” zehn Deutschkurse die Woche, morgens und nachmittags, in der alten Bücherei der katholischen Kirche. Mit 27 Schülern waren sie gut beschäftigt, zumal viele erst einmal die lateinische Schrift lernen mussten.
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Bald kamen mehr Lehrerinnen und Lehrer hinzu, aber auch die Nachfrage an den Kursen stieg mit der Anzahl der Flüchtlinge. Vor allem, weil viele aus der Notunterkunft in Katterbach zu den Sprachkursen kamen. Dort waren in einem Flüchtlingscamp des DRK in Leichtbauhallen zwischenzeitlich mehr als 300 Menschen untergebracht. In Haus Pohle wohnten zu Spitzenzeiten rund 65 Menschen, außerdem im Pfarrhaus eine Familie mit sieben Personen. Etwas 40 Geflüchtete wohnen heute noch im Stadtteil.
Hinweis der Redaktion: In dieser 4-teiligen Serie beschäftigen wir uns exemplarisch mit der Flüchtlingsarbeit im Stadtteil Schildgen. Wir wollen wissen, wie die Menschen hier mit der Herausforderung ab Herbst 2015 umgegangen sind – und wie die neuen Nachbarn Schildgen verändert haben. Den ersten Teil der Serie finden Sie hier.
Einige Bewohner von Haus Pohle konnten bereits Englisch sprechen und schreiben. Sie begannen, sich selber in Sachen Begleit- und Dolmetscherdienste zu engagieren, gingen zusammen mit denen, die nur Arabisch konnten, zu Ärzten, Behörden, Schulen und sogar in die Psychotherapie.
Eine weitere Arbeitsgruppe kümmerte sich um Patenschaften. „Das war nicht immer leicht“, sagt Sprecher Ingolf Gritschneder. Nicht alle passten zueinander. Die, bei denen es passte, bauten zum Teil enge Beziehungen auf. Gerade die jungen Flüchtlinge wurden schnell in ihre Paten-Familien integriert, feierten mit ihnen zusammen, oft zum ersten Mal, Weihnachten.
Zur Unterkunft in Katterbach (bitte das + anklicken)
Wie die einzelnen Flüchtlingshelfer an ihr Aufgabengebiet herangingen, hing stark von ihrem beruflichen Hintergrund ab. Ehrenamtsbegleiterin Margret Grunwald-Nonte formuliert das, augenzwinkernd, so: „Man glaubt immer, hier seien nur soziale Menschen beschäftigt, aber auch Manager haben was drauf.“ Ein Beispiel ist Jürgen Glöckler.
Heranführung an den Arbeitsmarkt
Der Diplom-Ingenieur Jürgen Glöckner war 36 Jahre in der Industrie – in ungefähr 15 verschiedenen Jobs. Die meisten davon in Brüssel, am Schluss arbeitete er im Management. „Die typische Karriere eines Ingenieurs“, sagt Jürgen Glöckler und lacht. Mit dem Ruhestand Anfang 2016 ging Glöckler in seinen 16. Job über: die Flüchtlingshilfe.
Wenn er von seiner ehrenamtlichen Arbeit erzählt, fallen Wörter wie „proaktiv“, „Feedback“ oder „Schneeballeffekt“. Glöckler kümmert sich um das, wovon er am meisten versteht: die berufliche Integration.
Im März 2016 hielt er die erste Präsentation im Haus Pohle. Anfangs war das größte Problem die Sprache, aber auch die fehlende Kenntnis der „Strukturen und Prozesse“ – so drückt es Glöckler aus. Und zwar auf allen Seiten, sagt er rückblickend: „Wir haben ziemlich viel gelernt in den letzten zwei Jahren, wir Ehrenamtler, die Flüchtlinge und die Ämter.“
Glöcklers erster „Job“ waren die Sprachkurse. Im Sommer 2016 brachte er die ersten jungen Leute im Intensivkurs an der Technischen Hochschule (TH) Köln unter. Innerhalb weniger Monate können sie dort die Deutsche Sprachprüfung für den Hochschulzugang erreichen. Glöckler erzählt das mit Stolz.
So schildert Jürgen Glöckner seine Erfahrungen im O-Ton:
Bald kamen Praktika, Ausbildungen, Studien- oder Arbeitsplätze und Stipendien hinzu. Glöckler sprach Unternehmen an, stellte ihnen potentielle Bewerber vor und begleitete seine Schützlinge zum Arbeitsamt, um Genehmigungen zu bekommen. Die Zusammenarbeit mit dem Jobcenter wurde immer besser.
Die „Mobilen Nachbarn”
Aus einem erfolgreichen Fahrradprojekt der Caritas Rhein-Berg zusammen mit dem Begegnungscafé Himmel un Ääd und dem Jugendzentrum FrESch entstand ein eigener Ableger der Willkommens-Gruppe: die „Mobilen Nachbarn“.
Der Spendenaufruf, den die Caritas im September 2015 für den Aktionstag absetzte, fand so viel Anklang, dass nicht nur die Bewohner von Haus Pohle schnell versorgt waren, sondern fast 100 Fahrräder übrigblieben. Die katholische Kirche nahm sich des Überschusses an und beschloss, das vom Erzbistum Köln entwickelte Fahrradprojekt „Mobile Nachbarn“ in Schildgen umzusetzen.
Als die Mobilen Nachbarn im Februar 2016 starteten, war Michael Funcke sofort dabei. Die katholische Kirche stellte der Gruppe die Garage am Pfarrhaus auf der Altenberger-Dom-Straße zur Verfügung. Sie wurde Werkstatt, Lager, Ausgabestelle und Büro.
Genau wie Glöckner übertrug Funcke von Anfang an viel aus dem Job aufs Ehrenamt. „Projektmanagement war schon immer mein Ding“, sagt er. Netzwerken habe in seinem Beruf bislang keine große Rolle gespielt. Bei den Mobilen Nachbarn übernahm er das Thema gleich zu Beginn: Die Homepage, die Facebook-Seite, Kontakte zu anderen Organisationen im Stadtgebiet und in der Region – das alles geht auf Funcke zurück.
Nach einem Jahr trat der Vorsitzende Thomas Weber zurück. Funcke zögerte nicht: „Es war klar, dass ich das mache, und ich habe gerne übernommen.“
Was Michael Funcke besonders begeistert, ist die Nachhaltigkeit seiner Arbeit: „Das Mobilitätsthema hilft bei so vielen Dingen im Alltag: Einkaufen, Praktika, Jobs.“ Ein eigenes Fahrrad bedeute Mobilität, bedeute Teilhabe, bedeute Integration in die Gesellschaft.
Er betont, dass sich die Mobilen Nachbarn nicht nur an Geflüchtete richten, sondern an alle Bedürftigen.
Gegenseitige Nachbarschaftshilfe
Durch die immer professioneller werdende Hilfe wurde die spontane Unterstützung der unmittelbaren Nachbarn, des Ehepaars Rüsings (siehe Folge eins), immer weniger notwendig. Doch sie blieben die ersten Ansprechpartner für die Bewohner von Haus Pohle. Ob es ein Brief war, den sie nicht verstanden, oder ein Problem mit den Kindern.
Für Werner Rüsing war das ganz normale Nachbarschaftshilfe: „Wenn bei Ihnen in der Nachbarschaft eine junge Frau ein Kind hat, dann fragt sie im Zweifel eine Nachbarin, die eine erfahrene Mutter ist, was sie machen soll. Genauso war das bei uns.“
Und das funktionierte auch umgekehrt. Wenn Claudia Rüsings Mutter vor dem Haus kehrte, sei sofort jemand von gegenüber gekommen und habe ihr den Besen aus der Hand genommen.
Scheinbare und wirkliche Probleme
Oft wurde das Ehepaar auf seine neuen Nachbarn angesprochen. Wie das jetzt wäre mit den jungen Männern da drüben, ob die nicht laut seien. Claudia Rüsing schüttelt den Kopf. Sie hätten zwar öfter bis in die Nacht auf dem Parkplatz gesessen, Feuer gemacht, Wasserpfeife geraucht. Aber als Problem empfand sie das nicht.
Ihr Mann sagt trocken: „Als das Haus Pohle noch Hotel und Restaurant war, war das für uns deutlich unangenehmer. Zu guten Zeiten hatten die jeden Freitag und Samstag Hochzeiten. Für die Paare war das einmal im Leben, für uns war es zweimal die Woche.“
Seine eigenen Befürchtungen hatten sich mit dem ersten Tag erledigt. Das änderte sich auch nicht, als es auf der anderen Straßenseite eine Polizeirazzia gab. Fünf Nordafrikaner hatten sich unter die Flüchtlinge gemischt. Der Verdacht auf Drogen und Diebstahl erwies sich als begründet. Im Zusammenhang mit den Angriffen auf Frauen in Köln zu Silvester 2016 vernahm die Polizei im Camp Katterbach und im Haus Pohle Flüchtlinge, als Zeugen.
Werner Rüsings Einstellung zu seinen Nachbarn hat sich dadurch nicht geändert. Er sagt: „Denen, die da nicht gepasst haben, standen viele ordentliche Jungs gegenüber. Und die haben dieses Verhalten auch nicht durchgehen lassen.“
Reaktionen in Schildgen
Rüsing und seine Frau ärgern sich über Pauschalisierungen, wie sie sie gelegentlich mitbekamen. Zum Beispiel, als ein Nachbar sagte, die Flüchtlinge würden ihm immer in die Einfahrt spucken. Oder als jemand fragte, ob sie ihren Willkommens-Gruß vor dem Küchenfenster ernst meinten. Die Menschen, die ein Problem mit geflüchteten Menschen hätten, würden nicht nur den Kontakt nicht suchen. Sie würden ihm regelrecht aus dem Weg gehen.
„Unterhalten Sie sich mal mit den Jungs“, sagt Werner Rüsing. „Da brauchen Sie keine Angst vor zu haben. Im Gegenteil. Wir haben immer gesagt, wir könnten unsere Tür offenstehen lassen. Da würde schon jemand aufpassen.“
Claudia und Werner Rüsing im Originalton:
Insgesamt haben die Rüsings aber deutlich mehr positives als negatives Feedback bekommen. Auch von Menschen, von denen sie es gar nicht erwartet hätten. Mehrere Nachbarn boten ihre Hilfe an. Einmal drückte jemand Werner Rüsing einen Umschlag mit Geld in die Hand, für die Menschen im Haus Pohle. „Wir kannten ihn nicht“, sagt Rüsing, immer noch erstaunt.
So hat es auch Michael Funcke in der Fahrradgarage erlebt. Viele Passanten kommentierten, wie toll sie das Projekt fänden, spendeten Geld oder Räder. „Wir haben viel Rückhalt in der Bevölkerung“, sagt er.
Einmal habe jemand kritisch gefragt, warum die Mobilen Nachbarn sich um Geflüchtete kümmerten und nicht auch um Rentner oder Obdachlose. Funcke lacht. „Ich hab’ nur gesagt: Tun wir doch.“
Hinweis der Redaktion: Wie sind Ihre Erfahrungen? Wie haben Sie die Unterbringung der Flüchtlinge und die Debatten erlebt? Nutzen Sie das Kommentarfeld oder schreiben Sie uns (gerne vertraulich per Mail: info@in-gl.de).
„In Schildgen gibt es viele offene Menschen“, sagt Margret Grunwald-Nonte, „aber natürlich gab es auch einige, die das Flüchtlingsthema nicht so prickelnd fanden.“ Die Willkommens-Gruppe habe es auch als ihre Aufgabe angesehen, mit diesen Menschen ins Gespräch zu kommen.
Ebenso das Begegnungscafé Himmel un Ääd: „Flüchtlinge sind natürlich ein Begegnungsthema“, sagt Achim Rieks, Vorsitzender des Trägervereins. Den vereinzelten Aktionen standen aber immer auch andere Themen gegenüber, wie die Drogenhilfe oder die Mädchenberatung.
Heile Welt im kleinen Dorf?
Funcke glaubt, dass die Schildgener im Großen und Ganzen wenige Probleme haben. „Hier herrscht kein Krieg, es gibt jeden Tag reichlich zu essen. Wir leben hier immer noch in einem kleinen Dorf“, sagt er.
Grundwald-Nonte sieht das genauso: „Schildgen ist gesettelt, Mittel- bis gehobene Oberschicht, alle sind gut versorgt.“
Ein anderer Ehrenamtler, der zu diesem Thema lieber nicht namentlich zitiert werden möchte, glaubt, dass das nicht ganz stimmt. Dass es in Schildgen sehr wohl Menschen gibt, die nicht gut versorgt sind. Und dass das mangelnde Wissen darüber kein Zufall ist: „In diesem Milieu ist Armut mit Scham verbunden.“
Dennoch waren auch im Himmel un Ääd mitunter Beschwerden zu vernehmen wie „Die bekommen alles hinterhergetragen, was ist mit uns?“.
Von der Vermieterin zur ehrenamtlichen Sozialarbeiterin
Ilse Reugels hört das regelmäßig. Als ehemalige Geschäftsfrau ist sie in Schildgen sehr bekannt – deswegen spricht sie mit vielen Menschen, und deswegen möchte sie hier nicht ihren richtigen Namen nennen. „Die Leute sagen: Die bekommen schneller Arzttermine als wir, oder die haben neuere Handys als wir.“
Sie selber wollte sich nicht direkt engagieren, wollte aber ihre Wohnung für die Vermietung an Flüchtlinge zur Verfügung stellen. Im Sommer 2016 zog eine fünfköpfige Familie ein. Reugels Erfahrung: „Ich hatte plötzlich nicht nur Mieter, sondern einen unbezahlten Halbtagsjob.“ Das Sozialamt hätte ihr die Mieter in die Wohnung gesetzt, gezahlt und sich sonst nicht mehr sehen lassen.
Die Familie stellte den Müll an die Straße, weil sie das Abfuhrsystem nicht verstand. Reugels konnte das nicht ignorieren, schrieb ihnen auf, wann der Abfall abgeholt wird. Erst nach einem halben Jahr wurde ihr klar, dass die Eltern Analphabeten waren.
Sie begannen, Reugels immer wieder um Hilfe zu bitten: Kindergarten-Anmeldung, Arzttermine, ihr Handy habe ständig geklingelt. „Die Familie hätte einen Sozialarbeiter gebraucht, der ihnen das alles erklärt“, sagt sie. Obwohl sie sich ärgerte, half und hilft sie ihren Mietern immer wieder, denn irgendwo hatte sie sie auch ins Herz geschlossen.
Sie glaubt, wenn die Flüchtlinge ihr eigenes Geld verdienen würden und kein Geld mehr vom Staat erhielten, würde sich die Meinung der Kritiker ändern.
Claudia Rüsing findet, dass niemand fürchten muss, durch die Geflüchteten benachteiligt zu werden: „Deshalb haben wir keinen Euro weniger im Portemonnaie, deshalb haben die Rentner keinen Euro weniger im Portemonnaie, und deshalb haben wir nicht weniger Arbeits- oder Ausbildungsplätze. Letztes Jahr waren nicht einmal alle Ausbildungsplätze besetzt.“
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Soviel zur Entwicklung der Flüchtlingsarbeit, zu vermuteten und tatsächlichen Problemen. Aber damit ist die Geschichte nicht zu Ende. Dieser Beitrag ist der zweite Teil einer vierteiligen Serie:
- Phase I: Ankunft und Herausforderung
- Phase II: Professionalisierung, Reaktionen der Nachbarn
- Phase III: Die aktuelle Situation, Probleme im Alltag
- Erste Bilanz: Was bleibt in Schildgen
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Ich habe deutsche Personen kennen gelernt die ich ohne Flüchtlinge, die da sind nie getroffen hätte und kennen gelernt hätte. Das hat mein Leben wieder glücklich gemacht. Da ich aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten gehen kann m
Ich bin immer noch in der Flüchtlingshilfe Willkommen in Schildgen Bergisch Gladbach tätig und unterrichte Flüchtlinge in Deutsch. Ich mache Radtouren mit Flüchtlingen über Mobile Nachbarn Team Fahrradhilfe Schildgen. Und ich kann nur sagen, ich habe sehr nette Flüchtlinge kennen gelernt und ich habe tolle Menschen kennen gelernt.
Wieder ein toller Bericht. Wir hier in Kürten haben ähnliches erlebt. Gut zu lesen.