Wie schwierig die Umsetzung der Inklusion in der Praxis ist, hatten wir aus der Perspektive von Schulen und Kitas berichtet. Jetzt meldet sich eine Mutter von zwei autistischen Jungen zu Wort. Mit sehr sachlichen Beobachtungen eines unglaublichen Leidenswegs. 

Der Name der Autorin ist uns bekannt, auch die der Söhne. Sie tragen in dieser Geschichte andere Namen. Die Schulen, von denen die Rede ist, befinden sich in Bergisch Gladbach und im Rheinisch-Bergischen Kreis; die genannte Förderschule in Köln. Auch ihre Namen nennen wir nicht – da es weder uns noch der Autorin um Schuldzuweisungen geht. Sondern um ein ungeschminktes Bild aus der Sicht einer betroffenen Familie. Wir haben mit Experten gesprochen: Diese Erlebnisse sind extrem. Aber real.

Wir bringen den Beitrag der Mutter in einer gekürzten Fassung und in zwei Teilen. Den vollständigen Bericht dokumentieren wir ganz unten.

In einem Artikel des Bürgerportals las ich von Schwierigkeiten bei der Inklusion in Schulen in Bergisch Gladbach und beschloss von meinen Erfahrungen zu berichten. Sie beinhalten sehr persönliche Schilderungen, die die Grenzen der Inklusion aufzeigen, aber auch Ideen, wie Inklusion gelingen kann.

Meine Söhne baten mich, ihre Geschichten zu erzählen. Es ist ihnen sehr wichtig, nicht mehr zu schweigen.

Idealerweise wird der Bericht auch Betroffenheit auslösen und wenn er nur wenige oder vielleicht auch nur einen Menschen dazu bringt, sich zu hinterfragen, ein Umdenken im Umgang mit Inklusionsschülern und dessen Eltern erreicht, so ist schon dies ein Erfolg, der vielleicht einem Schüler oder einer Schülerin den Alltag erleichtert.

Auch wenn ich diesen Beitrag als Mutter von zwei Kindern mit u.a. Autismus-Diagnosen schreibe, so nehme ich dennoch auch eine neutrale Position ein.

Ich leite und moderiere seit sehr vielen Jahren eine diagnosebezogene Eltern-Selbsthilfegruppe, habe in all diesen Jahren die Geschichten von weit über 100 Kindern und Eltern verfolgt und kann versichern – unsere Geschichte ist zwar individuell, aber sie ist leider keinesfalls einzigartig.

Hintergrund: Kann Inklusion funktionieren?
Eine wirkliche Inklusion braucht in vielen Bereichen Idealbedingungen, die oft kaum zu leisten sind und auch heute scheint, wie in vielen Städten und Gemeinden in Deutschland, Inklusion in Bergisch Gladbach eigentlich auch nicht gewollt sein.

Es gibt nach wie vor keine tragfähigen Konzepte, erschwert dadurch, dass die Förderschwerpunkte natürlich völlig unterschiedlich sind, ein „übergestülptes Förderkonzept“ nicht funktionieren kann, wenn man die Individualität des einzelnen Kindes nicht ausreichend berücksichtigt.

Hinzu kommen fehlende Barrierefreiheit, finanzielle Daumenschrauben seitens der Eingliederungshilfe-gewährenden Behörden, feste Vorgaben zu Schulen und den jeweiligen dort angebotenen Förderschwerpunkten bzw. der Anzahl an Förderplätzen, zu große Klassen, fehlende pädagogische Ressourcen, fehlende räumliche Ressourcen.

Zuletzt sollte man auch nicht vergessen, dass Kinder und Eltern auf das Wohlwollen der jeweiligen Schulleitungen angewiesen sind und oft zu Bittstellern werden.

Hintergrund: Haben Inklusions-Kinder eine Wahlfreiheit?
Inklusion in Bergisch Gladbach ist weiterhin weit davon entfernt, Eltern und ihren Kindern eine wirkliche Freiheit bezogen auf die Schulwahl zu lassen.

Möchte z.B. „Kind x“, das in Herkenrath wohnt, eine umfassende körperliche Behinderung hat und einen Rollstuhl benötigt, nach der Grundschule gerne die Realschule in Herkenrath besuchen, so scheint das, nach Lesen der Mitteilungsvorlage des Ratssystems, nach wie vor unmöglich zu sein – der Förderschwerpunkt „körperlich-motorische-Entwicklung“ ist dort nicht vorgesehen, in den anderen Bergisch Gladbacher Realschulen ebenso nicht.

Das Kind darf zwar grundsätzlich als Inklusionsschüler eine Regelschule besuchen, hat aber nicht die Freiheit – wie seine nicht behinderten Mitschüler und deren Eltern – eine Schule auszuwählen. Der Mitteilungsvorlage ist zu entnehmen, dass nur die IGP in Paffrath diesen Förderschwerpunkt anbietet. Für Eltern und Kind bedeutet dies, dass es u.U. recht weit entfernt vom Wohnort eine Schule besuchen muss und es stellt sich auch die Frage, wie es dorthin kommt.

Inklusion bedeutet hier in GL so eigentlich auch ein Stück weit Exklusion, da die Wahlfreiheit entfällt – das Kind wird zwar keiner Förderschule zugewiesen, dafür aber einer Schule, die es vielleicht gar nicht besuchen möchte, die vielleicht viel zu weit entfernt ist, deren gesamte Rahmenbedingungen für das Kind vielleicht auch viel zu groß sind.

So wie Inklusion als „Umsetzungs-Modell“ derzeit gehandhabt wird, kann Inklusion nicht funktionieren, weder in Bergisch Gladbach, noch allgemein in Deutschland.

Inklusion kann – jeweils individuell! – gelingen, wenn eine optimale Vernetzung aller Beteiligten (Schule, Therapeuten, Eltern, Behörden) vorliegt, die räumlichen, finanziellen und personalbezogenen Ressourcen gegeben sind und die Mitschüler und deren Eltern die Inklusion in vollem Umfang unterstützen.

Das ist jedoch sehr häufig nicht gegeben. Nicht nur in Bergisch Gladbach ist Inklusion immer noch ein Problem. Inklusion, die ja eigentlich Vorteile und Normalität bieten sollte, ist häufig eine Leidensgeschichte.

Das wird in meinen folgenden langen, sehr persönlichen, Schilderungen deutlich. Auch wenn sie sehr detailliert sind, so sind sie dennoch nur ein kleiner Bruchteil all des Geschehenen.

Jonas und seine Geschichte

Wir stießen im Bereich der schulischen Inklusion immer wieder auf sehr große Ablehnung, gerade in früheren Jahren war es sehr schwer eine Schule zu finden, die überhaupt bereit war, ein „Inklusionskind” aufzunehmen.

„Inklusion“ bedeutete früher noch deutlich mehr als heute, auf das Wohlwollen der Schulleitung angewiesen zu sein und erfolgte eher nach dem Prinzip „Wir machen das irgendwie, setzen das Kind einfach in die Klasse.”

Unsere Erfahrungen zeigen deutlich, dass dies so nicht funktioniert. Ich kenne viele Fälle, in denen Kind und Eltern litten und Inklusion eher Schaden anrichtete, sehr häufig erfolgte eine „Rückschulung“ in das Förderschulsystem.

Sind Förderschulen die bessere Alternative?
Diese Erfahrungen mögen bestätigen, was viele Menschen denken – Schüler mit Behinderungen können dort besser gefördert werden usw., so einfach ist es jedoch leider nicht.

Viele Schüler besuchen Förderschulen nur aus dem Grund, dass es in Regelschulen zu Mobbing kommt und Lehrer den Grundgedanken der Inklusion nicht mittragen. Aber Förderschulen sind auch kein Ort der Glückseligkeit, auch dort müssen Lehrer mit Schülern mit verschiedensten Behinderungen zurechtkommen, hinzu kommt, dass natürlich auch Förderschüler Menschen mit „Ecken und Kanten“ sind, ein Sozialgefüge vorhanden ist, wie überall an Schulen, ebenso wie auch dort Lehrer unterrichten, die einem Schüler (und dessen individuellem Förderaufwand) mehr- oder weniger wohlwollend gegenüberstehen.

Als bei unserem älteren Sohn Jonas die Grundschulanmeldung bevorstand, wurde er schon während eines Gespräches zur Terminanfrage nur aufgrund seiner Diagnose abgelehnt und direkt das Verfahren zur sonderpädagogischen Förderung (AO-SF) eingeleitet.

Erst 14 Tage vor Ferienbeginn stand fest, in welche Schule er nach den Ferien eingeschult wird. Von Klasse 1-5 besuchte er eine Förderschule, 3 Jahre in dieser Zeit zusätzlich eine Tagesgruppe.

Hintergrund: ADHS, Asperger, Autismus …
Zum Zeitpunkt der Einschulung lagen bei meinem großen Sohn 2006 die Diagnosen Asperger Syndrom und ADHS vor, das Asperger-Syndrom wurde später in der Klinik durch die Anamnese eher dem High-Functioning-Autismus zugeordnet (Beginn in frühester Kindheit, verspätete Sprachentwicklung).

Er schielte sehr stark, das wurde operativ korrigiert in der 4. Klasse. Im Laufe der Zeit kamen weitere Diagnosen hinzu – beidseitige Hüftdysplasie mit beidseitigem Cam-Impingement, Kyphose, Skoliose, Hyperlordose (er trug etwa 3 Jahre ein Korsett) und später der Immundefekt/Antikörpermangelsyndrom.

Schon in Klasse 3 stand fest, dass Jonas (sehr gute Leistungen, umfassende Entwicklungsfortschritte) nach Klasse 5 erneut in die 5. Klasse einer Regelschule einsteigen soll, unterstützt durch eine Vollzeit Integrationsassistenz, wir sollten eine Schule suchen.

Zurück in die Regelschule

Innerhalb von etwa 1,5 Jahren kontaktierte ich gut 20 Schulen, aber niemand wollte ihn nehmen und erst recht nicht mit einer Schulbegleitung. Erst recht spät in Klasse 5 konnte seine Schule es mit viel Überredungskunst erreichen, dass er in einer Regelschule hospitieren durfte und ein Lehrer dieser Schule bei ihm im Unterricht hospitiert – beides verlief so positiv, dass er dort mit Vollzeit-Schulbegleitung beginnen konnte.

Die Schule war sehr interessiert, die Zusammenarbeit aller Beteiligten sehr gut, Eltern, Mitschüler und Lehrer wurden detailliert informiert, mein Sohn war weiterhin ein sehr guter Schüler, liebte seine Schule und war gut integriert.

Leider musste Jonas diese Schule nach 1 ¼ Jahren wieder verlassen. Die Schulgemeinde verweigerte die Übernahme von Kosten für einen Einzeltransport, hatte diese zunächst nur unter Vorbehalt übernommen.

Erlebnisse im ÖPNV

Also trainierte Jonas mit seiner Begleiterin das Fahren mit dem ÖPNV. Die Schule begann sehr früh, er musste um 6.15 Uhr das Haus verlassen, kam gegen 17 Uhr nach Hause, dazu natürlich weiterhin notwendige Therapien, Hausarbeiten und Üben für Klassenarbeiten.

In den Bussen war Jonas immer häufiger Spott und körperlichen Übergriffen durch Schüler ausgesetzt, seine Bewegungsmuster und Sprache fielen auf. Einmal kam er weinend nach Hause, er hatte sich am Busbahnhof nach Einfahren des Busses eng vor die noch geschlossene Einstiegstür gestellt, ein Mann beschimpfte ihn, er solle nicht so drängeln, schubste ihn so grob beiseite, dass mein Sohn stürzte.

Bald darauf kam er erneut weinend und mit Kopfschmerzen nachhause, er stand einem Mann, der aussteigen wollte, im Weg, dieser schrie ihn an, drängte ihn beiseite und schlug ihm heftig auf den Kopf. Jonas zeigte deutliche Überlastungs- und Erschöpfungssymptome und allen Beteiligten war klar, dass er dies und die langen Tage auf Dauer nicht schaffen kann.

Streit um die Kosten

Gegen die Weigerung der Schulgemeinde, die Transportkosten zu übernehmen, hatten wir in der Zwischenzeit Klage eingereicht. Der Richter zeigte sich sehr betroffen, da die möglichen Kostenträger das Kind, das diese Belastungen und langen Tage ertragen musste, völlig aus dem Blick verloren hatten. Die  Schulgemeinde blieb bei ihrer Ablehnung.

Das Gericht ordnet die jeweils hälftige, rückwirkende Kostenübernahme für Eingliederungshilfe und Schulgemeinde an, für die zukünftige Kostenübernahme hätte ein neues Verfahren geführt werden müssen. Der Richter appelliert erneut an die Schulgemeinde, im Sinne des Kindes zu handeln. Die machte jedoch deutlich, dass sie auch zukünftig die Übernahme der Kosten verweigert wird.

Schweren Herzens beschlossen Schule, Jugendamt und wir, dass Jonas die Schule wechseln muss, um ihn zu entlasten. Die Schule kontaktierte die Bezirksregierung, die ihn einer Schule vor Ort, fußläufig zu erreichen, zuwies. Diese Schule hatte ihn zuvor abgelehnt.

Zweiter Anlauf in der Regelschule

Eher zähneknirschend nahmen sie ihn nun samt Schulbegleitung auf. Dass diese Klasse nun noch einen Schüler mehr hatte als üblich, eine Begleitung anwesend war, es räumlich noch enger wurde, sorgte nicht für Begeisterung.

Eine Information der Eltern war nicht erwünscht, nach Beratung mit den Klassenlehrern durfte mein Sohn einen Brief an die Klasse schreiben, in dem er sich vorstellt, ich sollte diesen Brief vorlesen und eventuelle Fragen der Klasse beantworten.

In der ersten Zeit lief es gut, er war nicht integriert, aber toleriert, zeigte weiterhin sehr gute Leistungen und ging sehr gerne in die Schule.

Verstörende Entspannungs-AG

Bald kam es zu ersten Problemen, eine Lehrerin, die eine Entspannungs-AG leitete, verstörte ihn sehr tief und sorgte für langanhaltende Ängste.

Ich traf sie beim ersten Elternsprechtag, sie berichtete, ihr Ehemann sei Heiler, könne meinem Sohn helfen seine Behinderung zu überwinden, mein Sohn habe sicher schon einmal gelebt, sei sehr mit früheren Zeiten verflochten. Ich war verwundert, fühlte mich sehr bedrängt und beendete das Gespräch freundlich und zügig.

Mein Sohn war jedoch zunehmend ängstlich und verstört, verschwand an AG-Tagen sofort in sein Zimmer, wich Gesprächen aus, ich hörte ihn alleine in seinem Zimmer reden. An einem AG-Tag war er jedoch so verstört, dass er unter Tränen berichtete, er habe große Angst, dürfe aber nichts erzählen, die Lehrerin habe das verboten.

Jonas ließ sich beruhigen und erzählte, sie müssten in den Stunden das Sichtfenster der Türe mit einem Tuch verhängen, damit niemand hineinsehen kann, oft lange in eine Kerzenflamme schauen, das sei unangenehm, würde Augen- und Kopfschmerzen auslösen.

Sie nahm Jonas in den Stunden beiseite, sagte auch ihm, dass ihr Mann ihn vom Autismus heilen könne und dass er vermutlich schon einmal gelebt hätte, in seinen alten Büchern seien negative Energien der Verstorbenen, diese könnten auf ihn übergehen und ihn beherrschen.

Dies sei jedoch gefährlich, denn vielleicht seien auch schlechte Menschen dabei gewesen, vielleicht sogar ein Mörder und durch die Übertragung des Negativen würde auch er eventuell irgendwann zu einem Mörder. Entweder solle er alle Bücher wegschmeißen oder er müsse jedes Buch nehmen, drei Mal auf das Buch klopfen und Beschwörungsformeln sprechen.

Mein Sohn war völlig verängstigt, sagte mir, dass er es nicht schaffen würde, nie einen negativen Gedanken zu haben.

Woran Inklusion scheitert

All dies war in seinem Aufgabenheft der AG schriftlich aufgezeichnet. Ich kontaktierte seine Klassenlehrer, die all dies erst glaubten, als sie sein Aufgabenheft sahen. Sie informierten die Schulleitung, gaben das Heft weiter (wir haben es nicht wiederbekommen).

Die Schulleitung nahm sehr bald Kontakt zu mir auf und bat mich eindringlich, all das niemandem zu erzählen, sie würden es mit der Lehrerin klären.

Mein Sohn wurde sofort von AG befreit, am gleichen Tag erhielt ich einen Anruf der AG-Lehrerin, die mir lange, sehr wütend, vorwarf, sie hätte mir vertraut.

Diese Lehrerin unterrichtete noch Jahre später an der Schule, auch die AG wurde fortgesetzt. Es dauerte lange, bis mein Sohn seine Angst vor negativen Gedanken verlor, er hatte jedoch immer Angst vor dieser Lehrerin.

Probleme zwischen den Schülern

Zunehmend gab es nun auch Probleme im Klassenverband, alle Schüler waren in der Pubertät, die Gesamtsituation wurde immer schwieriger, immer häufiger kam es zu Spott und Übergriffen.

Die Eingliederungshilfe-Behörde bestand auf einer schrittweisen Reduzierung der Begleitstunden, mein Sohn müsse langsam gelernt haben Probleme selbständig zu klären, allgemein selbständig zu handeln (natürlich war er mittlerweile selbständiger, hatte aber natürlich auch weiterhin seine individuellen, behinderungsspezifischen Probleme, die nie verschwinden werden).

GEW lädt zur Diskussion über Inklusion ein

Gerade in den unbegleiteten Stunden wurden die Übergriffe heftiger, niemand stellte sich auf seine Seite. Jonas wurde beschimpft, geschlagen, bespuckt, beworfen, die Klasse stöhnte genervt auf, wenn er sich im Unterricht auf eine Frage meldete, verspottete ihn, äffte ihn nach, er wurde getreten, bedrängt, ausgelacht, bloßgestellt, Schüler sagten ihm, er solle doch vom Dach springen, so einen Krüppel wie ihn würde niemand brauchen, er solle sich doch endlich umbringen, Behinderte gehörten in Sonderschulen, auch die Eltern würden dies sagen, es kam sogar zu sexuellen Übergriffen.

Es wurden haarsträubende Geschichten erfunden und verbreitet und bei uns zuhause klingelte – auch mitten in der Nacht – immer häufiger das Telefon mit geschmacklosen „Scherzanrufen“.

Die Rolle der Lehrer

Seine Klassenlehrer verweigerten meinem Sohn Hilfen, sie reagierten zunehmend genervt, ungehalten und verharmlosend, er musste sich stattdessen anhören, er solle sich nicht so anstellen, Schüler würde sich ärgern, das sei nicht böse gemeint, er müsse lernen, das auszuhalten.

Eines Tages bestellte ihn die Schulleiterin zu sich und fragte ihn sehr aufgebracht, warum er sich immer so anstellen würde, seine ständigen Klagen müssten endlich aufhören, jetzt würde es doch endlich mal reichen mit dem Autismus.

Auch die Schulbegleitung wird immer mehr zum Ziel, Klassenlehrer kritisierten die Enge in der Klasse, die Anwesenheit der Begleitung sei störend, Schüler äußerten der Begleitung gegenüber (wenn sie einen Mitschüler aufforderte, meinen Sohn in Ruhe zu lassen), sie hätte ihm/ihr gar nichts zu sagen.

Schulbegleiter zwischen den Fronten

Sämtliche Klärungsversuche wurden abgewiesen, Gespräche wurden blockiert. Eines Tages thematisierten die Klassenlehrer in einer Schulstunde spontan die Schulbegleitung und forderten (während Begleitung und Sohn anwesend waren) die Klasse auf, alle Kritik auszusprechen, auch, was sie an der Begleitung stört, wie sie es finden, dass sie immer dabei ist usw.

An einem Tag kam es zu einer heftigen Prügelei im Gang, während die Schüler auf den Lehrer warteten, ein Schüler trat auf einen bereits verletzt, blutend am Boden liegenden Schüler ein. Die Schulbegleitung hinderte ihn am weiteren Zutreten, der Lehrer kam bald hinzu und kümmerte sich um den verletzten Schüler.

Es gab heftige Kritik an die Schule durch die Eltern des angreifenden Schülers, die Begleitung hätte nicht das Recht ihren Sohn zu anzufassen oder überhaupt zu maßregeln.

Im späteren Hilfeplangespräch erhielt die Begleiterin die klare Anweisung – egal was geschieht oder wie schlimm ein Schüler verletzt wird – sie darf nie eingreifen. Ihre Handlung sei zwar nachvollziehbar und menschlich gewesen, hätte schlimmere Verletzungen verhindert, sei aber auch kompetenzüberschreitend gewesen.

Eskalation im Sportunterricht

Die Situation spitzte sich immer weiter zu, es kam zu einer Eskalation. Ich erhielt einen Anruf, dass ich sofort meinen Sohn abholen soll, er hätte im Sportunterricht Mitschüler bedroht (völlig unüblich für ihn, er zog sich eher zurück um Konfrontationen zu vermeiden), sei „ausgerastet“ und hätte gebrüllt „Ich bringe euch alle um!“.

Jonas war aufgeregt und ängstlich, erzählte zu Hause weinend, dass es durch die ganze Gruppe besonders heftige Übergriffe in der Umkleidekabine gab und er große Angst hatte. In der Sporthalle wurde er – wie immer – in keine Mannschaft gewählt, dann unter heftigem Prostest der Schüler einer Mannschaft zugeteilt, kaum hatte die Lehrerin sich abgewandt, hätte man ihn erneut beschimpft, geschlagen, geschubst und getreten.

Er sei so verzweifelt und voller Angst gewesen, aber auch wütend, dass ihm niemand hilft, dass er dies so gerufen habe. Er wisse genau, das sei falsch, aber er könne einfach nicht mehr, natürlich würde er nie jemandem etwas antun, es täte ihm so leid, er wolle doch nur, dass man ihn einfach in Ruhe lässt.

Hintergrund: Warum es mit Autisten nicht immer leicht ist
Auch meine Kinder haben mal Blödsinn gemacht oder sich nicht an Regeln  gehalten, sie wussten jedoch immer, dass ihr Fehlverhalten Konsequenzen nach  sich zieht und es gab  im privaten Bereich immer direkte, verständliche und sinnvolle Konsequenzen.

Ich habe allen Lehrern immer gesagt, dass “Autismus” natürlich keine Entschuldigung für ein Fehlverhalten ist und dass meine Söhne eine klare Ansprache und ggfs. Konsequenzen benötigen, um aus dementsprechenden  Situationen zu lernen, wie jede/r andere Schüler/in auch. Sie sollten nie
geschont/verschont werden, weil sie autistisch sind.

Ich verstehe auch, dass sie sich für ihre Mitschüler ein Stück weit selber zum Ziel gemacht haben, sie reagierten anders, als andere Schüler, sie fielen durch ihre Art immer wieder ein Stück weit auf.
Gut erklärt das vielleicht diese Situation, die mehrmals vorgekommen ist. Ein Lehrer wird in der nächsten  Stunde ausfallen, ein Vertretungslehrer wird übernehmen, die Kinder bekommen vorab Aufgaben, die sie in dieser Stunde erledigen sollen.
In der  Vertretungsstunde fragt der Lehrer, was sie zuletzt erarbeitet haben, ob sie Aufgaben erhalten haben, alle Kinder behaupten, es gäbe keine Aufgaben, in der Hoffnung auf eine entspannte Vertretungsstunde. Mein Sohn jedoch meldete sich und erklärte, zuletzt hätten sie xy gemacht und sie hätten Aufgaben bekommen, die sie erledigen sollen.
Dies machte ihn natürlich nicht beliebter, er selber  verstand dies nicht, denn schließlich hätten sie diese Aufgaben bekommen und erledigen müssen, was also war falsch daran, die Frage des Vertretungslehrers
richtig zu beantworten und warum logen alle Mitschüler und warum waren sie wütend auf ihn?
Es ist sehr schwer einem autistischen Kind zu erklären, warum Lügen natürlich falsch ist, dass es natürlich auch falsch war, dass alle Mitschüler gelogen haben, dieses Verhalten der Mitschüler jedoch eigentlich
ein völlig normales Verhalten war und warum es nicht als “typische Lüge” zu sehen ist.

Auch sprachliche Missverständnisse oder Nichtverstehen der jeweiligen Aussage sorgte immer wieder für Spott. Es ist schwierig, einem autistischen Kind typische Redewendung zu erklären und unser Alltag ist voll von Äußerungen, die zu Missverständnissen führen können, die man wörtlich nehmen kann, wenn man sie nicht entschlüsseln kann.
Im Jugendlichen-Alter erklärte mir mein Sohn  eines Tages z.B., ich dürfe Duschgel xy nicht kaufen, er dürfe es nicht benutzen. Auf meine Nachfrage erklärte er, man hätte in der Fernsehwerbung  gesagt, dieses Duschgel sei nicht für Warmduscher”, er jedoch würde ja immer sehr heiß duschen, so sei es für ihn nicht geeignet.

Aber selbst wenn sie durch ihre Art, ihre Reaktionen usw. auffielen, sie waren nie “bösartig”, gemein, bedrängend o.ä., sie haben immer ihr Bestes gegeben, immer wieder, Tag für Tag versucht so gut wie möglich durch ihren Schultag zu kommen, alle Anforderungen – die schulischen und die, den Autismus
“zu beherrschen” – zu erfüllen. Sie gaben sich immer Mühe hinzuzulernen, sie lernten Situationen zu vermeiden, lernten Redewendungen wie Vokabeln, übten das Entschlüsseln von Mimik und Gestik usw. Fehlverhalten darf natürlich kritisiert werden, aber alleine “Andersartigkeit” ist kein Grund dafür, zu
diskriminieren und zu quälen.

Kurz darauf erhielt ich einen Anruf seiner empörten Klassenlehrerin, viele Eltern hätten sie kontaktiert. Sie würde das nicht mehr mitmachen, so aggressiv gehöre er nicht in die Klasse, sie sei nicht bereit das Risiko zu tragen, dass er vielleicht ein möglicher Amokläufer sei und er sei mit sofortiger Wirkung bis zur endgültigen Klärung vom Unterricht ausgeschlossen.

Ein erschütternder Elternabend

Auf Verlangen der Eltern wurde ein Sonder-Elternabend angesetzt. Dieser Elternabend, an dem fast alle Eltern teilnahmen, erschütterte mich sehr, durch all den Hass, der mir und meinem Sohn entgegenschlug. Während der ersten halben Stunde riefen die meisten Eltern aufgebracht durcheinander, schrien mich an, beschimpften mich. Im weiteren Verlauf beschwerten sie sich nacheinander.

Sie kritisierten angebliche Sonderrechte meines Sohnes. Sie beschwerten sich, dass die Schulbegleitung ihre Kinder nicht zurechtweisen dürfe, sie behaupteten, mein Sohn sei aggressiv (dies wurde von Lehrern und Abteilungsleiter verneint) und forderten immer wieder einen Wechsel auf eine Förderschule.

Ihre Kinder seien zudem in der Pubertät, hätten genug mit sich selbst zu tun, da könne man nicht noch Rücksicht anderen gegenüber, erst recht keinem Behinderten gegenüber.

Eine Mutter hatte im Namen mehrerer Eltern einen Brief verfasst, den sie mir vorlas – sie forderten mich darin auf, meinen Sohn von der Schule zu nehmen, ihn dort anzumelden wo er hingehören würde, auf eine Sonderschule. Eine Liste mit solchen Schulen hätten sie mir angefertigt und würden sie mir überreichen.

Zum Ende des Abends forderten die Eltern einen weiteren Elternabend mit Aufklärung über Autismus durch Fachpersonal sowie einen Autismus-Thementag für die Schüler, nach diesem Tag sollte mein Sohn die Schule wieder besuchen dürfen.

Wie mir der Abteilungsleiter berichtete, nahmen am einheitlich geforderten Themen-Elternabend nur zwei Elternteile teil, der Schüler-Thementag verlief ähnlich erfolglos, fast alle Schüler waren desinteressiert, machten sich lustig, viele verweigerten die Aufgabenstellungen.

Ein neuer Anlauf

Am nächsten Tag durfte mein Sohn zurück in die Schule, freute sich sehr, kam glücklich nachhause, es sei ein sehr guter Tag gewesen, niemand hätte ihn geärgert, manche Schüler seien sogar freundlich gewesen.

Auch die nächsten Wochen verliefen ruhig und gut, mein Sohn war glücklich, dass er jeden Tag zur Schule durfte und man ihn in Ruhe ließ, für den Sportunterricht durfte er einen eigenen Raum zum Umziehen nutzen, mit Stabilisierung der Lage, wurde auch die Begleitstundenanzahl durch die Eingliederungshilfe-Behörde noch weiter reduziert.

Leider verschlechterte sich die Situation nach einiger Zeit wieder, meinem Sohn ging es zunehmend schlechter, er sprach kaum noch über seine Schultage, seine Leistungen verschlechterten sich, er war erschöpft. 14 Tage vor den Weihnachtsferien bat er um ärztliche Schulbefreiung bis zu Ferien, um wieder zu Kräften zu kommen.

Ein Abschiedsbrief

Wir versuchten ihn zu stärken, sprachen ausführlich über die Möglichkeit eines Schulwechsels und weiterer Unterstützung. Die schulfreie Zeit tat ihm gut, er war fröhlich und erholte sich. Am Abend vor dem ersten Schultag im neuen Jahr sprachen wir erneut über einen Schulwechsel, eine mögliche längere Befreiung und welche Hilfen er sich wünscht. Er wollte wieder in seine Schule. Nach dem ersten Schultag wirkte er ruhig und ausgeglichen, es sei okay gewesen.

Durch einen Zufall erfuhren wir an diesem Tag abends, dass er einen Abschiedsbrief geschrieben hatte.

Mein Sohn brach weinend zusammen, er hätte geplant, am nächsten Morgen nicht zur Schule zu gehen und sich das Leben zu nehmen, er wollte von einer Brücke springen, man hätte ihm immer gesagt, dass er das tun solle, er sei ja einfach nur dumm und hässlich, er würde all das nicht mehr aushalten.

Der Schultag sei furchtbar gewesen, kaum in der Klasse angekommen, sei man über ihn hergefallen. Dieser Schmerz und die Hilflosigkeit, dem eigenen Kind all das nicht ersparen zu können, ist unbeschreiblich und der Schmerz nicht erkannt zu haben, wie schlecht es ihm ging, ihn fast verloren zu haben, ist in seiner Intensität – auch heute noch – nahezu unerträglich.

Am nächsten Tag wurde er in eine Klinik eingewiesen, verbrachte dort 5 Wochen, stabilisierte sich sehr schnell.

Die Kapitulation der Schule

Direkt nach der Einweisung informierte ich seine Klassenlehrerin. Sie sagte sofort, ich solle eine neue Schule suchen, sie würden meinen Sohn nicht mehr zurücknehmen. All das sei ihr zu anstrengend und zu belastend.

Ich müsse verstehen, dass sie all die Anstrengung mitgenommen hätte, es ginge ihr schlecht. Wenn er nicht mehr da sei, würde die Klasse zwar ein neues Opfer finden, das sei nicht vermeidbar, der-/diejenige sei dann aber wenigstens nicht behindert.

Ich war erschüttert, keine Frage, wie es meinem Sohn oder uns geht, keine Nachfrage, weder von Lehrern, noch von Schülern oder Eltern. Man war einfach froh, ihn – „das Problem“ – endlich los zu sein.

Zurück in die Förderschule

Die Klinik leitete einen Schulwechsel in eine Förderschule ein, er sollte durch die kleinen Klassen und „geschützten Rahmenbedingungen“ profitieren und zur Ruhe kommen, diese Schule bot zudem eine Oberstufe an.

Jonas wechselte von Klasse 9 dort in Klasse 8, fühlte sich 3 Jahre dort sehr wohl, machte einen sehr guten Realschulabschluss und wechselte in die Oberstufe.

In der Oberstufe wurde es erneut schwierig, große Klassen, Schüler mit und ohne Behinderungen gemeinsam, schnell gab es auch hier die überall beliebten „Anführer-Persönlichkeiten“ und Grüppchenbildung.

Jonas gehörte schnell zu den unbeliebten Schülern, wurde ausgegrenzt, verspottet, geärgert, Lehrer zeigten sich genervt, wenn er sie immer wieder ansprach um ihm in dieser/jener Situation zu helfen, bzw. die Situation für ihn zu verbessern, einige Lehrer lehnten ihn deutlich ab, was sich deutlich in den Noten spiegelte.

Er hatte immer häufiger Infekte, litt unter Kopfschmerzen und Erschöpfung, seine Schulleistungen sanken. Durch das nun auch dort zunehmende Mobbing bzw. die Ausgrenzung entstand posttraumatisch eine heftige Krise, die akut einen mehrwöchigen Tagesklinik-Aufenthalt erforderlich machte, er verpasste viel Lehrstoff, erhielt kaum Unterrichtsmaterial.

In dieser Zeit lernte er, mit all dem, was ihm angetan wurde, umzugehen, es anzunehmen und konnte erst dann berichten, was ihm wirklich alles angetan wurde und dies, in seinem Umfang und in der Intensität, war zutiefst erschreckend.

Auf dem Weg zum Abitur …

Zurück in der Schule bat er um ein Gespräch mit allen „wichtigen“ Lehrern und uns, er hatte große Wissenslücken und wollte beraten, wie er trotzdem das Abitur erreichen kann. Er berichtete auch, dass er in Therapie und privat ständig an sich arbeiten würde, auch um störende Verhaltensweisen (z.B. motorische Unruhe, ständig etwas in den Fingern haben, mit etwas Rascheln usw.) zu regulieren.

Seine Klassenlehrerin äußerte, dass sich dies oft positiv zeigt, oft aber auch nicht, dies sei anstrengend. Ich schlug eine jeweils kurze Rückmeldung nach dem Unterricht vor – gut/schlecht gelaufen – um seine Eigenwahrnehmung/Regulierung positiv zu verstärken.

Sie lehnte ab, er sei kein Kleinkind und müsse das ohne Hilfen schaffen. Eine Wiederholung der Klasse wurde trotz großer Wissenslücken und schlechter Leistung abgelehnt, er würde das Abi schon irgendwie schaffen.

Mit sehr schlechten Noten erfolgte der Übergang in das Abiturjahr. Mein Sohn entwickelte eine Schulangst, litt unter Erkrankungen und Erschöpfung, er wurde zwar weniger gemobbt, aber weiterhin ausgegrenzt.

Anfang Dezember im Abiturjahr erkrankte er an einer sehr schweren Lungenentzündung, die sich sehr schnell verschlechterte und zu einem lebensbedrohlichen Zustand führte, er lag in sehr ernstem Zustand auf der Lungenintensivstation im Koma. Es war eine furchtbare Zeit und wir sind sehr glücklich, dass er überlebt hat!

… und dann fehlten zwei Punkte

Nach einigen Wochen konnte er aus der Klinik entlassen werden, war sehr geschwächt, konnte erst ab Februar, stundenweise steigernd, die Schule besuchen. Eine Wiederholung des Schuljahres wurde abgelehnt, war auch aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich (Verdacht auf Immundefekt).

Er erreichte sein Abitur nicht, es fehlten zwei Punkte in einer mündlichen Prüfung, der prüfende Lehrer war derjenige, der im Gespräch geäußert hatte, dass er nicht noch mehr Zeit in meinen Sohn investieren wolle.

Dieser teilte ihm lächelnd mit, dass er seine Prüfungsleistung mit einer 6 bewertet habe, er sei somit durchgefallen. Für eine Nachprüfung fehlte meinem Sohn psychisch und physisch die Kraft.

Sebastians Geschichte

Die Geschichte meines jüngeren Sohnes Sebastian verlief ähnlich.

Wir wünschten uns für ihn durch seinen hohen Förderbedarf eine Einschulung in eine Förderschule, dies war jedoch leider nicht möglich, er wurde zwangs-inkludiert, ein Start im Regelsystem sollte für nahezu alle Schüler möglich sein.

Hintergrund: ADHS, High-Functioning-Autismus
Die Mutter beschreibt die Erkrankungen von Sebastian wie folgt:

„Bei meinem jüngeren Sohn (Einschulung 2006) lagen bereits mit 2 1/2 Jahre die Diagnosen “ADHS” und “hochgradiger Verdacht  auf eine Entwicklungsstörung aus dem autistischen Formenkreis” vor, bestätigt
wurden diese Diagnosen etwa 6 Jahre später “frühkindlicher Autismus/High-Functioning-Autismus). Auch er schielte sehr stark.  2013 wurde Skoliose und Kyphose (Morbus Scheuermann) diagnostiziert. 

Für ihn war das völlig falsch, seine Grundschulzeit war geprägt von schlimmen Mobbingsituationen. Die Grundschule akzeptierte seine Diagnose nicht, verweigerte jegliche Aufklärung der Eltern und Mitschüler, ebenso eine Schulbegleitung – alles mit der Begründung, dies würde ihn stigmatisieren, man verbot uns sogar, Eltern von der Diagnose zu erzählen.

Sie verweigerte auch die Zusammenarbeit mit der heilpädagogischen Tagesgruppe, die er sehr erfolgreich besuchte. Selbst bei sehr offensichtlichen Problemen hieß es, es gäbe keine Probleme.

Er litt während der gesamten Grundschulzeit unter massiven Ängsten, verhielt sich überangepasst. Seine Autismus-Diagnose wurde seitens der Schule nicht anerkannt und verharmlost, obwohl sich seine Betreuerin der Tagesgruppe (Autismusfachtherapeutin) und der zuständige Autismusberatungslehrer mehrfach um Anerkennung, mehr Unterstützung und Dialog bemühten.

Guter Start in der Sekundarstufe 1

Nach der Grundschule sollte er auf eine Regelschule der Sekundarstufe 1 wechseln, man zeigte sich dort sehr aufgeschlossen, machte jedoch zur Bedingung, dass er nur mit „offiziellem Förderstatus“ und Vollzeit-Begleitung genommen wird, um ihn umfassend zu unterstützen, dies war auch unser Wunsch.

Anfangs lief es sehr gut, Sebastian war gut integriert, fand sogar Freunde. Nach 1 ½ Jahren wurde es schwieriger, seine Klassenlehrerin stellte zunehmend die Begleitung infrage, verlangte immer wieder Handlungsmuster, die er durch seine Behinderung nicht leisten konnte.

Wie anstrengend es ist, Autist zu sein

Er wurde ängstlicher, zog sich zurück, war erschöpft, äußerte Suizidgedanken. Er schrieb einen langen Brief an seine Schulleiterin, die er sehr schätzte.

In diesem Brief beschrieb er sehr intensiv, wie anstrengend es ist, „Autist zu sein“, dass er ständig überlegen müsse, ob er eine Situation oder Gehörtes tatsächlich richtig verstanden hat, ob seine Antwort oder Reaktion richtig ist, dass er nicht versteht, warum jemand wie handelt oder wie die Blicke eines Anderen einzuschätzen sind.

Er sei der Einzige in der Klasse, der so sei und er könne das nicht mehr. Er würde immer versuchen so unauffällig wie möglich zu sein, dies sei jedoch sehr anstrengend und würde auch dazu führen, dass man ihm, z.B. seine Lehrerin, nicht glaubt, dass er Autist ist und seine Begleitung so immer wieder erklären müsse, warum er was nicht kann.

Sein Wunsch: die Förderschule

Er bat in diesem Brief darum, dass er auf die Förderschule seines Bruders wechseln darf, dort sei er nichts Besonderes. Dieser Brief und das Leid, das darin zum Ausdruck kam, berührte seine Schulleiterin und viele Lehrer sehr und er konnte tatsächlich auf die Förderschule wechseln.

Es ging ihm dort sehr gut und er war sehr glücklich, bis zwei Jahre später seine Klassenlehrer wechselten. Mit diesen kam er nicht klar, sie verweigerten ihm spezifische Hilfen und Verständnis, verlangten ein selbständiges Handeln und viel mündliche Kommunikation, die er in Teilbereichen nicht leisten konnte.

Mit zunehmendem Alter der Schüler wurde es in der Klasse sehr schwierig, ein Großteil seiner Energie wurde dadurch verschlungen, dass er versuchte den Lärm, Chaos und deren Verhaltensauffälligkeiten auszublenden und sich davon abzugrenzen.

Sein Bruder Jonas besuchte mittlerweile die Oberstufe, Lehrer, die auch seinen Bruder kannten, übertrugen nun ihre Abneigung auch auf Sebastian, häufig sprach man ihn mit Jonas an, die Stufenleiterin/seine Mathematik-Lehrerin (die seinem großen Bruder häufig verspottet oder beschimpft hatte, u.a. mit „Schiel mich nicht so blöd an!“) äußerte häufig, er sei sowieso zu blöd für alles, könne höchstens mal bei McDonalds arbeiten, für mehr würde es sowieso nicht reichen usw.

Das Verhalten der Lehrer

Diverse Lehrer bestraften Sebastian immer wieder hart für Dinge, die er nie getan hatte. Einmal sollte er zur Strafe (für eine Tat, die ein anderer Schüler begonnen hatte) zwei Stunden im Schulgarten arbeiten, daraus wurde ein ganzer Vormittag, mit anschließender Ankündigung der Lehrerin, am nächsten Tag solle er erneut dort arbeiten, es sei nicht ihr Problem, wenn er Unterricht verpasst.

Ein anderes Mal sollte er zur Strafe für eine Verunreinigung in der Klasse (die ein Mitschüler begangen hatte) die ganze Klasse putzen. Im Anschluss daran sagte sie, die Fenster seien nicht sauber genug, er müsse dies am nächsten Tag wiederholen und die Klasse bis zum Ferienbeginn (Wochen später) putzen.

Es gab viele weitere Situationen ähnlicher Art. Gab es ein Problem in der Klasse, war er Schuld. Klärungsversuche durch ihn und später durch ihn und uns führten dazu, dass es schlimmer wurde.

Ein Rechtsextremer?

In einer schriftlichen Zeugnisbeurteilung wurde ihm – völlig unsinnigerweise – detailliert aufgeführt unterstellt, dass er „politisch rechtsgerichtet“ sei, hierzu erhielten wir Eltern am ersten Ferientag der Sommerferien einen langen belehrenden Brief über die Schrecken der Nazi-Zeit.

Vorausgegangen war allerdings ein Musikprojekt, in dem mein Sohn (er hatte dies dem Lehrer zuvor auch angekündigt) sich mit einem Lied einer Band, die dem rechten Spektrum angehörig ist, auseinandergesetzt hatte.

Der Lehrer kündigte ihm knapp vor den Ferien daraufhin an, alle Lehrer und Schulleitung über seine rechte Gesinnung zu informieren, seine Mathematik-Lehrerin äußerte, dass seine Frisur (eine ganz normale, moderne Kurzhaarfrisur) ja auch seine rechte Gesinnung zeigen würde. In dem Brief an uns verlangte der Lehrer zudem eine umfassende, begründende, schriftliche Distanzierung meines Sohnes vom „rechten Spektrum“, die bis zum Schulbeginn vorliegen sollte.

Während der gesamten Ferien ging es meinem Sohn sehr schlecht, er verfasste natürlich die geforderte Distanzierung, erklärte umfangreich, warum er dieses Lied gewählt habe und was er damit bezwecken wollte, seine Angst vor Schulbeginn und dem Stempel, dem man ihn aufgedrückt hatte, wuchs immer mehr. Er ließ seine Haare wachsen.

Wir versuchten eine Abänderung des Zeugnisses in Ziffernnoten zu erwirken, dies gelang erst nach Einschalten der Bezirksregierung. Von da an wurde es für meinen Sohn in der Schule noch einmal schlimmer. Man verweigerte ihm nun auch, schriftlich Kontakt aufzunehmen, wenn er etwas mündlich nicht klären konnte (dies war für ihn immer eine wichtige Brücke).

Kampf um den Realschulabschluss

In der Klasse fand er keinen Rückhalt, man schloss ihn aus und jeder Schultag wurde zur Qual. In Mathematik stand er mittlerweile 5, litt täglich unter der Lehrerin. Trotzdem schaffte er seine Abschlussprüfung mit dem Realschulabschluss.

Am Tag darauf teilte ihm seine Mathematiklehrerin/Stufenleiterin plötzlich mit, er habe nicht bestanden und gar keinen Schulabschluss erreicht. Plötzlich sollte er angeblich in einem Wahlpflichtfach eine 5 haben, wie es zu dieser 5 gekommen sein sollte, konnte niemand erklären.

Seine – seit einigen Monaten – wieder neue Klassenlehrerin war bestürzt und konnte sich dies nicht erklären. Am nächsten Tag teilte sie uns mit, sie hätte in Gesprächen herausgefunden, dass es sich um ein Versehen gehandelt hätte, er hätte nun doch seinen Abschluss.

Bei der Abschlussfeier sagte ihm die Lehrerin, die das Wahlpflichtfacht unterrichtete, sie hätte seine letzte, sehr gute Arbeit leider nicht vor der Konferenz korrigiert, so dass auf dem Zeugnis die schlechtere Note stände, weil diese Note nicht mit eingeflossen war. Sofort nach der Zeugnisausgabe wollte mein Sohn die Schule verlassen und sagte, dass er nie wieder einen Fuß in diese Schule setzen will.

Demütigungen ohne Ende

Noch ein Jahr nach dem Klinikaufenthalt meines älteren Sohnes Jonas tauchte in einem sozialen Netzwerk ein Fotos von ihm auf, das ein ehemaliger Mitschüler mit verspottenden Kommentaren wie z.B. „Loser“ versehen hatte. Das Foto, eine Großaufnahme des Kopfes, zeigte, wie meinem Sohn die Kapuze seines Sweatshirts bis an das Kinn gezogen wurde und die Hände eines Mitschülers die Bänder würgend zusammenzogen.

Ich habe damals die Schulleitung angerufen und angekündigt, dass ich diesen Schüler jetzt anzeigen würde und sie sofort dafür sorgen sollen, dass dieses Bild verschwindet. Man beschwor mich dies bitte nicht zu tun, dem Mitschüler nicht die Zukunft zu verbauen, man würde sich sofort kümmern.

Das Bild verschwand am gleichen Tag, die Schulleitung teilte mir mit, man habe Schüler und Eltern ernste Konsequenzen angedroht. Noch heute kommt es vor, dass dieser Mitschüler, wenn er meinen Sohn sieht, im Vorbeifahren langsamer wird und durch das geöffnete Autofenster „Loser“ o.ä. brüllt.

Sie haben es dennoch geschafft

Meine Söhne haben sehr viel Leid erfahren müssen und auch wir Eltern sind durch all das tief getroffen. Beide Söhne leben nun ohne spezifische Hilfen „im Regelsystem“ bzw. haben den Sprung in eine Ausbildung geschafft.

Ich war und bin keine „Helikoptermutter“, im Gegenteil, meine Söhne wussten immer, dass sie so selbständig wie möglich handeln müssen, nicht im Sinne von „Lass mich das für Dich übernehmen.“ sondern im Sinne von „Wie könntest Du dieses Problem lösen, wie müsstest Du vorgehen, was ist schwierig für Dich?“

Sie wussten beide, dass – sollten sie mit all dem nicht weiterkommen – wir uns im letzten Schritt zur Klärung mit einsetzen, sofern sie das wünschten, aber an erster Stelle das Erlernen der Selbständigkeit steht. Sie wissen auch, dass sie eine gewisse Anpassungsleistung erbringen müssen, um mit dem Alltag klarzukommen.

Sie sind heute 24 und 19 Jahre alt. Beide sind sehr höfliche, hilfsbereite und fröhliche Menschen und es ist bewundernswert, wie stark und zielstrebig sie trotz all des Erlebten sind. Jeder von uns trug seine Wunden davon, die Narben werden immer bleiben, sie schmerzen nur nicht mehr so stark und werden hoffentlich immer weiter verblassen.

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Soweit der Erfahrungsbericht der Mutter von Jonas und Sebastian. In einem zweiten Beitrag befasst sie sich mit der Frage, wie es mit der Inklusion an Schulen in Bergisch Gladbach steht, was die Stadt bislang geleistet hat – und was noch zu tun ist. Wir veröffentlichen den Beitrag in den kommenden Tagen.

Dokumentation: Der ungekürzte Bericht

Weitere Beiträge zum Thema:

GEW lädt zur Diskussion über Inklusion ein

https://in-gl.de/?p=189662

Inklusion ohne Räume und Personal – Schulen im Chaos

Inklusion in der Kita: „Gut gedacht – schlecht gemacht!“

https://in-gl.de/2019/05/07/was-aus-inklusions-schuelern-geworden-ist/

Wie entwickelt sich die Inklusion an Schulen?

Wie Inklusion in der Jugendarbeit gelingen kann

InBeCo bildet junge Inklusionshelfer aus

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6 Kommentare

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  1. Liebe Familie,
    sehr traurig, wie verletzend ein sensibles Kind behandelt wird.

    Beim Lesen des Berichtes frage ich mich:“ Wo ist die eingestzte Schulbegleitung? “ Hat sie nicht im vollen Umfang den Schüler begleitet? Sie. hätte die Übergriffe doch eigentlich ( bei Vollzeitbegleitung) mitbekommen können?
    Sie hätte auch dieses verhindern können?
    War die Schulbegleitung bei der AG nicht zugegen?

    Tatsächlich arbeite ich als Schulbegleitung und bekomme eine Menge mit und konnte auch manchmal rechtzeitig intervenieren und um Verständnis für das besondere Verhalten bitten. Natürlich nicht immer, aber zum Glück oft genug.

    Mein Kernfragen bleiben: Was hat die Schulbegleitung in unschönen Situationen unternommen? Wurde sie nur zu bestimmten Stunden eingesetzt, wurde sie regelmäßig von der Schule “ zurückgepfiffen?“

    Aber, ich muss auch auch sagen, dass ich persönlich/ wir ( Schulkind und Begleitung)das große Glück haben eine sehr vernünftige, bodenständige,zukunftsorientierte und soziale Schule mit entsprechender Schulleitung / Klassenleitung gefunden zu haben. Auch Schule muss lernwillig bleiben, denn nur so ist Schule fähig, ein sozialer zukunftsorientierter und im positiven Sinne nachhaltiger Lernort sein.

    Bleibt weiterhin mutig und stark und lasst euch die Freude am lebenslangen Lernen nicht nehmen.

  2. Ich habe den Bericht über die Mutter gelesen und ihren Kampf um ihre Söhne, die es geschafft haben trotz so vieler Anfeindungen. Ich bewundere dieses starke Frau.
    Ich hatte einen sehr schweren Unfall und bin behindert, linkes Auge blind. Meine Eltern haben mir sehr geholfen, die Schule zu schaffen. Ich war auf einer Waldorf Schule für Behinderte und Gesunde Kinder. Dass hat mir sehr geholfen.
    Ich glaube dass in dem Bereich Behinderung und Inclusion noch viel gemacht werden muss und es Behinderten mehr geholfen werden muss.

  3. Sehr geehrter Herr Watzlawek,

    ich danke Ihnen für den sehr guten Bericht bzw. diese Dokumentation.
    Leider wäre ein Hinweis auf die Inklusionspauschale des LVR Köln sehr hilfreich und wichtig für die Schulen.
    Dort gibt es Zuschüsse für Inklusionsmaßnahmen die beantragt werden können – z.B. für den Bau behindertengerechter Toiletten oder Hilfsmittel für behinderte Schüler*innen.
    Diese Pauschale ist in diesem Jahr erst wieder verlängert worden.

  4. Auch ich finde es bewundernswert,wie sie das alles durchgestanden haben.
    Meine Tochter war bis zum Realschulabschluss auf Förderschulen, da wir dies zum damaligen Zeitpunkt für richtig hielten und sie beim Wechsel von Grund- in Realschule auch nicht in eine Regelschule wollte.
    Allerdings mussten wir einen Wechsel zwischen den Berufskollegs vornehmen, da die Ausbildung die meine Tochter macht, nicht im Förder-Berufskolleg angeboten wird.
    Daher musste sie auf ein Regel-Berufskolleg wechseln.
    Da diese Berufsschule eine Inklusionsberatung hat die auch in dem Bereich ausgebildet ist, in dem meine Tochter Hilfe braucht( Förderung Hören und Komunikation ), und die Schule auch bereit war unsere Tochter aufzunehmen, sind wir guter Dinge das alles soweit gut klappt. Ob sie in der Klasse gut integriert wird, wird Die Zeit zeigen. Sollte es Probleme geben hoffe ich jedenfalls, das Schule, Inklusionsberatung und wir an einem Strang ziehen um unserer Tochter eine gute Ausbildung zu ermöglichen.

  5. Liebe starke Mutter,

    ich habe den Bericht nun noch einmal gelesen und er erschüttert mich immer mehr. Dass Sie es geschafft haben, 2 Kinder trotz sovieler Anfeindungen und Ablehnungen in eine Ausbildung begleitet zu haben, erfüllt mich mit tiefster Hochachtung. Wie sehr man auf einzelne Menschen angewiesen ist, die sich für inkusive Kinder einsetzen- auf die man aber auch nur per Zufall trifft oder eben nicht – haben Sie sehr eindrücklich geschildert, aber auch, was passiert, wenn es am Willen, Offenheit und an Strukturen mangelt. Unser Schulsystem versagt hier strukturell völlig, wenn Sie als Hilfesuchende immer nur vom Guten Willen der Lehrer, Schulleiter, anderen Eltern und ihren Kindern und der Schulgemeinde abhängen.