Behindert sein, behindert werden: Falsche Schublade
Menschen mit Behinderung werden bisweilen in Bezug auf ihre Fähigkeiten, auf das, was sie sind, auf ihre Behinderung reduziert. So werden sie allein auf ihr äußeres Erscheinungsbild „in eine Schublade“ gesteckt, in die sie einfach nicht reingehören. Unsere Kolumnistin schildert zwei Erlebnisse dieser Art – und erklärt, was es mit dem Ableismus auf sich hat.
Neulich in einer Geschäftsstelle eines Telefonanbieters in einer beliebigen Fußgängerzone ist es wieder passiert. Ich war mit meinem Elektromobil unterwegs, als ich auf diese Geschäftsstelle stieß. Nochmal meinen Mobilfunktarif checken zu lassen, war mein spontaner Gedanke. Kann nicht schaden. Gedacht, getan, rein in das Ladenlokal.
Niemand da! Es dauerte 1-2 Minuten, bis ein junger Mann sich motivieren konnte, mich zu fragen, ob er mir weiterhelfen könnte. Sein Gesicht sprach Bände, seine Augen rollten leicht, Sein Blick verriet mir unmissverständlich: „Oh je, was will „die“ denn? Mobiltelefon mit großen Tasten und Prepaidkarte? Ist „die“ überhaupt geschäftsfähig? Verdammt, ausgerechnet jetzt ist der Kollege in Pause! Tief durchatmen!!! Ich schaffe das schon.“
„Guten Tag!“ sage ich höflich. „Wie kann ich Ihnen helfen?“ fragt der junge Mann wie ein Profi, schließlich ist er ja Dienstleister. Wohlwissend, in welche Schublade er mich vorab gedanklich gesteckt hatte, beginne ich mein Anliegen mit den Worten: „Ich habe da so einen Businesstarif! Könnten Sie sich den mal ansehen?
Der junge Mann wird unruhig. Mit dieser Frage hatte er offensichtlich nicht gerechnet. Nervös gibt er meine Mobilfunknummer in sein System ein und fragt mich nach dem Code, den ich per SMS erhalten würde. Ich sage diesen umgehend durch. Tatsächlich, ein Business-Tarif!
Ich setze noch einen oben drauf und vervollständige mein Anliegen: „Wissen Sie, es geht mir vordergründig um Datenvolumen. Ich bin öfter mal in einer Videokonferenz und sie können sich ja denken, dass sich das schwieriger gestaltet, wenn man viel unterwegs ist und nicht genügend Datenvolumen hat.“
Nach weiterem Wortwechsel und etlichen fachlichen Nachfragen meinerseits wurde ich von dem jungen Mann allmählich „wieder aus der Schublade hervorgeholt“. Es gefiel mir, dass er mehr und mehr begriff, dass seine erste Einschätzung, was meine Fähigkeiten sind, falsch war. Umso angenehmer und ungezwungener verlief das weitere Gespräch.
Zur Autorin: Monika Hiller ist kleinwüchsig und gehbehindert. Sie ist als Inklusionsbeauftragte der Stadtverwaltung Bergisch Gladbach für Inklusion und Abbau von Barrieren zuständig. Diese Serie soll für das Thema „Barrieren“ sensibilisieren.
Ich verließ als zufriedene Kundin das Geschäft und fuhr mit meinen Scooter wieder hinaus auf die Einkaufsstraße. Draußen ein älterer Herr, der mir voll des Lobes zu verstehen gab, wie toll ich doch den Scooter beherrschen würde. „Wie toll, rückwärtsfahren kann sie auch noch! Ja, das ist ja einfach nur bewundernswert.“
Äh, was jetzt genau? Einen Scooter lenken???
Beide Erlebnisse sind Beispiele für Ableismus.
Ableismus leitet sich von dem englischen Wort „able“ (= fähig sein) ab. Der Begriff bezeichnet die Auf- oder Abwertung von Menschen mit einer Behinderung oder chronischen Erkrankung aufgrund ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten. Betroffene werden also danach bewertet, was sie aufgrund ihrer Einschränkung können oder nicht können.
Bei ableistischen Verhaltensweisen orientieren sich die Bewertenden, auch „Ableds“ genannt, an einer erwünschten biologischen (körperlichen oder geistigen) Norm. Nach dieser Denkweise handeln Menschen mit einer Behinderung oder chronischen Erkrankung immer nur „wegen“ oder „trotz“ ihrer Einschränkung.
Typischerweise werden Betroffene entweder abgewertet und diskriminiert, wenn sie etwas nicht gut können, aber auch in besonderem Maße gelobt und aufgewertet, wenn ihnen einfache Dinge gelingen (Quelle: Onmeda).
Für Menschen mit einer Behinderung ist es schwierig angemessen damit umzugehen, wissen sie für sich selbst sehr genau um ihre Fähigkeiten. Sie wissen aber auch, dass weder der junge noch der ältere Mann sich mit Absicht so verhalten haben.
Es zeigt jedoch, wie die Gesellschaft tickt. Klischees, Schubladendenken…. Erst recht, wenn Begegnungen mit Menschen mit Behinderung kaum stattfinden. Es bedarf noch viel Aufklärungsarbeit, dass alle (!) eines Tages ohne Vorbehalte Teil dieser Gesellschaft werden.
Ich möchte weiterhin daran glauben, dass es gelingen kann.