Das Aufmöbeln alter Sessel gehört schon immer zu den Stärken des Refrather Familienbetriebs Reitz, Recycling ist also in der Unternehmenskultur angelegt. Junior-Chefin Lina Reitz sucht aber nach vielen weiteren Wegen, die Arbeit und die Produkte des Raumausstatters noch nachhaltiger zu machen. Mit diesem Beitrag setzen wir unsere Serie fort: Welche Art von Unternehmen, welche Produkte brauchen wir für ein gutes Leben?

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Die Transporter mit dem großflächigem Zebramuster fallen auf. Die Streifen sind mal schwarz, türkis, orange oder pink. Die Wagen gehören „Reitz Lebensräume“ – das steht auch drauf. „Reitz Lebensräume“: Der Name des Raumausstatters klingt ja schon ein bisschen nachhaltig. Gibt es hier Antworten auf die Frage, wie wir leben und arbeiten wollen?

Foto: Thomas Merkenich

Das Familienunternehmen Reitz hat seinen Sitz in Refrath – ein Eckladen mit Schaufenstern zu allen Seiten. Drinnen: viele Sessel, eine Couch, Regale, eine offene Küche mit Bar und Lebensmitteln, ein großer Esstisch, auf dem Getränke stehen.

Es ist wuselig, Pakete stapeln sich  – und wenn nicht überall edle Stoffmuster hängen würden, könnte das auch eine Wohnung sein. In die Werkstatt kann jeder einen Blick reinwerfen, sogar von der Straße aus durchs Fenster. 

Foto: Thomas Merkenich

Was der Sessel erzählt

Ein Sessel wird gerade neu aufgebaut. Alle Nägel und Heftklammern müssen entfernt werden. Polsterschichten erzählen mit ihrem Geruch von vergangenen Jahren. Manchmal enthält so ein Sessel auch verborgene Schätze: Münzen, kleine Zettelchen mit Botschaften, Kinderspielzeug, erzählt Lina Reitz. Die 34-Jährige ist Junior-Chefin und die jüngste Obermeisterin der Innung für Raumausstatter, Bergisches Land.

Am Sessel beginnt jetzt die eigentliche Arbeit: Das Holzgestellt wird verleimt und gedübelt. Neue Gurte für die Förderung aufgezogen, Spiralfedern aufgerichtet. Die Krönung ist die Polsterung mit Naturmateral Afrik (Palmfaser): Schicht für Schicht wird aufgezogen, geformt und vernäht  – alles per Hand. 

Sitzkomfort und Musterstimmigkeit wird permanent geprüft.  Fünfzehn bis fünfundzwanzig Arbeitsstunden für ein Möbelstück, das danach noch einmal 30 Jahre halten kann. Eine der vier Gesellinnen des Raumausstatterbetriebes, Anna Stöhr, macht hier während der Fotoaufnahmen gut gelaunt ihren Job. Im Hintergrund läuft WDR4. 

„Wir haben ja per se schon den nachhaltigsten Beruf der Welt“, sagt Lina Reitz. „Zu uns kommen die Leute mit Omas Sessel und wir machen ihn wieder fit und schön.“ Und das wortwörtliche Aufmöbeln sei sogar günstiger als der Neukauf. 

Sinn vor Gewinn – die Idee der Gemeinwohlökonomie

Die  Gemeinwohlökonomie (GWÖ) wurde 2010 vom österreichischen Autor Christian Felber als Reaktion auf die globale Finanzkrise, die Klimakatastrophe und die soziale Schieflage in vielen Industrieländern entwickelt. Felbers Kritik: Die klassische Ökonomie orientiert sich am Shareholder Value und am Primat des Wachstums – nicht am Gemeinwohl. Gewinne werden privatisiert, Kosten externalisiert. Dabei ist das Prinzip „Eigentum verpflichtet“ längst im Recht verankert:

Grundgesetz, Art. 14 (2): „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“

Bayerische Verfassung, Art. 151: „Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl, insbesondere der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle.“

Die GWÖ will diese Grundsätze praktisch werden lassen. Sie fordert Unternehmen auf, nicht nur Finanzzahlen offenzulegen, sondern auch ihren Beitrag zum Gemeinwohl. Dieses Ergebnis wird in einer „Gemeinwohl-Bilanz“ sichtbar, die von externen Auditor:innen geprüft wird – um Greenwashing vorzubeugen. Die Skala reicht von -3600 Punkten (schwer schädlich) bis zu +1000 Punkten (vorbildlich)**.

Die Europäische Union (EU) unterstützt das Modell und hat sogar das  Vergaberecht reformiert, so dass öffentliche Aufträge stärker auf gemeinwohlorientierte Unternehmen ausgerichtet werden können.

Ein Ohrensessel im Möbelmarkt koste im Schnitt 600 Euro und halte nur 10 Jahren. Dann müsse er auf den Sperrmüll. Preise für die Renovierung eines Sessels nennt Lina Reitz nicht, aber im Internet wird der Aufwand auf 1.000 bis 2.000 Euro geschätzt, abhängig von Arbeitsaufwand und Stoff. 

Europa statt Übersee

Der Stoffkauf ist da schon komplizierter. Wo der einzelne Faden herkommt, sei nicht recherchierbar. Aber auch in der Region gäbe es gute Herstellerbetriebe. Aus Bielefeld etwa die Firma JAB Anstoetz, die in Deutschland produziert und in ihrem Geschäftsbericht für die handgefertigten Möbel einen Ersatzzeitpunkt von 20 Jahren verspricht. Auch die Stoffe werden in Deutschland hergestellt. 

So hat sich die Zusammenarbeit innerhalb Europas verstärkt. Gute Firmen sitzen auch im Nachbarland und nicht nur in China. Die Begeisterung für Raumkunst in England und Frankreich ist viel höher als hier. Man lebt in alten Häusern und mit Stoffen und kopiert gerne die Inneneinrichtung der ehemaligen oder jetzigen Könige.

Das Team Reitz recherchiert sorgfältig und dann fährt auch schon mal die ganze Gruppe, natürlich mit dem eigenen Transporter, ins 250 Kilometer entfernte Willebroek nach Belgien zur Firma Bring und Campmann, um sich von den fairen Arbeitsbedingungen vor Ort zu überzeugen.

Auch die kurzen Transportwege von Belgien gehören für Reitz zu einer nachhaltigen Produktion. „Ein schöner, aber auch interessanter Betriebsausflug.“ Darüber wird auch gleich per Instagram berichtet.

Handwerk als Zukunftsmodell

So wird der Nachwuchs geködert. Reitz Lebensräume hat in den letzten 35 Jahren – so lange gibt es den Betrieb schon –  über 30 junge Menschen ausgebildet, sowohl im Maler- als auch im Raumausstatter-Handwerk. Alle zwei Jahre kommt eine neue Auszubildende oder ein Auszubildender in den Betrieb. 

Momentan arbeiten hier vier Gesellinnen – alle bei Reitz ausgebildet – neben der Familie: Vater Willi, Mutter Dagmar und Lina, die seit 2024 nach Ausbildung, Studium und Praxis im Ausland im elterlichen Betrieb Geschäftsführerin wurde. Alle tragen Ringelshirts, nicht zufällig, das ist Berufskleidung.

 „Schon in den ersten Räumen der Menschheit, den Höhlen, malten sie Streifen an die Wände, sagt Dagmar Reitz. 

Dagmar Reitz; Foto: Thomas Merkenich

„Ich glaube, dass die anderen Nachwuchsprobleme haben, weil sie nicht ausbilden. Die haben Angst, dass sie sich den eigenen Wettbewerb schaffen,“ sagt Lina Reitz. Das läge auch daran, dass 2004 die Meisterprüfung nicht mehr als Bedingung für die Selbstständigkeit galt. Diese Regel hat die Handwerkskammer 2020 wieder geändert.

Stoffe und Materialien geben Sicherheit

Lina Reitz ist ein emphatischer Mensch. „Uns lassen die Menschen in ihre intimsten Räume. Waren sie schon mal im Schlafzimmer ihrer Freunde?“ Sie schaut ernst: „Und manchmal kommen wir auch in die Wohnung von gerade Verstorbenen – die Familie möchte was verändern in dem Haus, aber doch auch die Erinnerung behalten.“ 

Auch das habe ja was mit Nachhaltigkeit zu tun. Stoffe, Texturen und Materialien geben Menschen Sicherheit, Geborgenheit und Orientierung, sagen Psychologen. Ich merke mir einen Satz von Lina Reitz: „Gern zu Hause sein, bringt das Gute im Menschen hervor.“ 

Foto: Thomas Merkenich

Politische Unterstützung

Das Gute im Menschen könnte etwas mit psychischer Gesundheit zu tun haben.  Und „Gesundheit“ ist eines der 17 UN-Nachhaltigkeitsziele. Seit 2016 versuchen die Länder die Ziele in der Gesellschaft und den Unternehmen zu verankern. 

Die Rheinisch-Bergisch Wirtschaftsförderungsgesellschaft (RBW) hat 2023 eine eigene Stelle für das Thema Nachhaltigkeitsberatung geschaffen. Seit drei Jahren können sich Unternehmen auch zu „betrieblichen Nachhhaltigkeitslotsen“ ausbilden lassen. Das Projekt ist mittlerweile zu einem „Leuchtturmprojekt“, sagt Geschäftsführer Volker Suermann, geworden. 53 haben die Weiterbildung bereits durchlaufen. Lina Reitz war eine der Ersten.

UN-Ziele setzen Ideen frei

In Köln fand sie einen Stoffhersteller, der keine PFAS-Textilimprägnierung einsetzt. Das sind Chemikalien, die beständig gegen Öl, Flecken und Wasser sind – und giftig. Hauptsitz der Firma ist Dänemark. Gemäß UN-Nachhaltigkeitsziel Nr. 13 (Maßnahmen zum Klimaschutz)  beschreibt das Unternehmen auf seiner Website konkret wie es seine Produktionsweise ändert, um den CO2-Fußabdruck verringern.

Im Laden der Lebensräume in Refrath findet man viele Stoffe aus Hanf und Leinen. Die brauchen weniger Wasser und werden auch in Mitteleuropa angebaut. 

Das Lieblingsthema der Geschäftsführern mit dem Sessel-Tattoo auf dem Arm aber ist Recycling. Sie zeigt schicke Bälle aus Stoffresten für das Spiel von Kindern oder als Deko. 
Sie schneidert Kissen aus verschiedenen Stoffen und spendet an die „Aktion Herzkissen“, die diese an krebskranke Frauen im Krankenhaus verschenkt. Bunte Stoffe, das bedeutet Wohlgefühl im  Krankenhauszimmer. Außerdem arbeitet der Betrieb mit Studenten an neuen Ideen, was aus geschredderten Stoffen entstehen kann. 

Foto: Thomas Merkenich

Weg vom Studieren – hin zum Gestalten

Das Handwerk Raumgestaltung vereinigt Stoff-, Holzverarbeitung, kreative Vorstellungskraft und Überzeugungskraft beim Kunden.  Im ersten Ausbildungsjahr verdient man 682 Euro, im zweiten 855, im dritten 921.

Es gibt für Gymnasiasten:innen die Möglichkeit, die Ausbildung zu verkürzen. Aber Lina Reitz winkt ab: Was nützt eine Kurvendiskussion, wenn man nicht mit den Händen denken kann. Am Ende steht eine viertätige Prüfung: Teppicheinlegearbeit, Wandbespannung, Posterarbeit, mehrteilige Fensterdekoration. 

Reitz zeigt, wie ein Traditionshandwerk versucht, grüner zu werden. Handwerksbetriebe gelten als teuer, aber wenn man genauer hinschaut, sind sie die nachhaltigsten Glieder der Wertschöpfungskette.


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die Diplom-Betriebswirtin ist Journalistin und Theaterpädagogin.

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