Die Pushkarovs gehören zu den ersten Ukraine-Flüchtlingen, die in Bergisch Gladbach ankamen. Dafür gibt es zwei Gründe: die Entschlossenheit der Mutter Anna – und die Freundschaft zu dem Deutschrussen Oleg Stark. Dies ist ihre Geschichte.
Der Aufbruch
Am Donnerstag, 24. Februar, früh morgens um 5.15 Uhr, hörte Anna Pushkarov eine Explosion. Sie dachte keine Sekunde lang nach. Weckte ihre Mutter und die Kinder – Valeria, 20, Mark, 17, David, 3 – packte die Pässe und Hündin Shakira ins Auto und fuhr los in Richtung polnische Grenze. Nur mit Jacken über den Schlafanzügen. Ohne Wechselkleidung, Spielsachen, Abschlusszeugnisse.
Erst später fiel ihr ein, dass sie das Licht angelassen hatte.
„Ich weiß nicht, was das war“, sagt die 44-Jährige heute, in einem Wohnzimmer in Refrath. „Ich habe nicht gedacht. Ich habe einfach gemacht.“
Sechs Stunden brauchten sie, um die Hauptstadt Kiew zu verlassen. Je näher sie der polnischen Grenze kamen, desto leerer wurden die Tankstellen und Geschäfte. Anna Pushkarov hatte das vorhergesehen und das Auto unterwegs bei jeder Gelegenheit aufgefüllt.



Das Warten
Elf Kilometer vor der Grenze begann die Warteschlange. Wenn man einen Moment nicht aufpasste, drängelten sich andere vor. Es kam zu Handgreiflichkeiten, Reifen wurden durchlöchert. Sie und die Tochter schliefen drei Tage lang fast gar nicht.
Noch schlimmer fand Anna Pushkarov aber, was sie um sich herum sah: „Da waren so viele Menschen, mit kleinen Kindern, Haustieren, Koffern, Wasserflaschen.“


Sie stockt. Ihre Augen füllen sich mit Tränen, sie versucht die Fassung wiederzugewinnen. Dann erzählt sie weiter: Als die Vorräte aufgebraucht waren und der Dreijährige hungrig wurde, ging sie zu Fuß los. Erst in einem fünf Kilometer entfernten Dorf fand sie einen Tante-Emma-Laden, kaufte Joghurt, Brot, Wasser, eine Banane. Mehr gab es nicht.
Schließlich versorgten auch Anwohner:innen die Wartenden mit Essen und Getränken.
Als sie endlich die Grenze überqueren durften, musste Tochter Valeria sich von ihrem Verlobten verabschieden. Drei Tage zuvor hatte er um ihre Hand angehalten. Am Abend vor der Flucht war das Paar im Kino gewesen, der junge Mann hatte bei Familie Pushkarov übernachtet. Keiner von ihnen hatte geahnt, dass am nächsten Morgen ein Krieg ausbrechen würde.

Er begleitete die Familie bis zur Grenze, um bis zur letzten Minute mit Valeria zusammen zu sein. Er wusste schon, dass er, wie alle Männer zwischen 18 und 60, das Land nicht verlassen durfte. Nach dem Abschied meldete er sich für den Widerstand.
Am liebsten wäre auch Sohn Mark geblieben und hätte seine Heimat verteidigt. Anna Pushkarov ist froh, dass er erst im Dezember 18 wird. Und dass sie ihm noch verbieten konnte, sich freiwillig zu melden.
In Polen ging die Familie erst einmal in ein Hostel. Die Schlange auf der ukrainischen Seite war mittlerweile 40 Kilometer lang. Anna und Valeria holten ein paar Stunden Schlaf nach. Am nächsten Morgen ging es weiter.
Erst in Bergisch Gladbach brach Anna Pushkarov zusammen. Nach 104 Stunden auf der Flucht.

Der Hintergrund
Sie sieht immer noch müde aus an diesem Nachmittag, eine Woche nach der Ankunft. Wir befinden uns im Wohnzimmer ihrer neuen Refrather Unterkunft. Tochter Valeria und Mann Yevhen sind beim Gespräch dabei, außerdem der Mann, wegen dem sie alle jetzt in Bergisch Gladbach sind: Oleg Stark.
Oleg Stark ist als Sohn einer Deutschrussin und eines halbrussischen, halbfinnischen Mannes in Russland aufgewachsen. Seit 2002 ist er in Deutschland, seit 2007 kennt er Yevhen Pushkarov. Beide waren Unternehmer, beide sind vor einigen Jahren spektakulär gescheitert.
Yevhen Pushkarov wollte daraufhin nach Bergisch Gladbach kommen und neu beginnen. Ein Start-up betreuen. Er hatte in der Ukraine die deutsche Schule besucht und 1991 das beste Abitur des Landes gemacht. War zigmal als Austauschschüler und Student in Deutschland und Österreich gewesen. Seit dem Kontakt mit Stark besuchte er ihn fast jedes Jahr einmal mit seiner Frau in Schildgen.
Stark half ihm, ein vorläufiges Visum mit Arbeitserlaubnis zu bekommen, nahm ihn in seiner Wohnung auf, als er Ende 2021 nach Bergisch Gladbach kam. Die Familie sollte im Sommer dieses Jahres folgen, nach dem Abitur des 17-Jährigen.
Valeria wollte in Kiew bleiben. Sie war fast fertig mit ihrem Jura-Studium, sollte im Sommer mit dem Referendariat beginnen.
Jetzt sind sie alle hier. Viel früher, ganz anders als geplant.
Das Ankommen
Nach ihrer Ankunft in Bergisch Gladbach kamen die Pushkarovs bei Oleg Stark und seiner Familie unter. Nur wenige Tage später wurde ihnen plötzlich ein Haus in Refrath angeboten: Der Besitzer wollen es abreißen und durch ein Holzhaus ersetzen; wegen Lieferschwierigkeiten kann das erst 2023 passieren. Solange, fand er, könnte das alte Haus noch einen Nutzen erfüllen.
Er kommt jeden Tag vorbei, erzählt Anna Pushkarov. Auch viele andere Menschen fragen, ob sie helfen können, bringen Spielsachen, Kleidung, Lebensmittel. Sie wendet sich zu Oleg Stark, sagt etwas zu ihm. Er hat die ganze Zeit schon übersetzt, Pushkarov hatte ihre Geschichte auf Russisch erzählt. Jetzt schmunzelt er und sagt auf Deutsch: „Oleg ist der Beste.“
Er selbst sagt: „Wenn ich helfen kann, helfe ich. Ich hätte auch Russen geholfen.“ Dass er in Russland aufgewachsen ist, erzählt er erst auf Nachfrage. Leider würden viele seiner ehemaligen Landsleute glauben, dass Putin die Ukraine von Neonazis befreie.
Anna Pushkarov lacht bitter. Es ist ihr wichtig, dass die Leser:innen dieses Artikels wissen: Das, was in der Ukraine passiert, ist keine Befreiung, sondern eine Besetzung. Die russische Armee bombardiere gezielt Krankenhäuser, Schulen, Geburtshäuser, humanitäre Hilfsposten.
Sie versucht, wenig zu lesen. Aber ständig erhält sie Nachrichten oder Anrufe von Freunden, Verwandten. Viele sind auch geflüchtet, nach Rumänien, Bulgarien, Deutschland. Viele hängen fest.
Die Brücken, die die Pushkarovs überquert haben, sind in der Zwischenzeit zum Teil bombardiert worden. Yevhens Vater ist im Süden des Landes, die Verwandten seiner Mutter sind in Luhansk. Viele von Valerias Freunden harren in Kiew aus. Wenn die Sirenen heulen, gehen sie in die U-Bahn-Stationen der Stadt. Teilweise mit ihren zwei, drei Jahre alten Geschwistern. Für zehn, elf, 20 Stunden. Einige hatten kein Auto, um auf die Flucht zu gehen, andere kein Geld. Manche wollten einfach nicht.
Die Zukunft
Auch Valeria hofft, dass sie in ein paar Monaten zurückkehren und ihr Studium beenden kann. Ihr ganzes Leben ist in der Ukraine, ihre Zukunft, ihr Zuhause. Ein Nachbar hatte fünf, sechs Tage nach der Flucht einmal in der Wohnung nach dem Rechten gesehen. Wie es jetzt dort aussieht, weiß sie nicht.
Anna will erst einmal die Sprache lernen. Sie hat Wirtschaft und Mathematik studiert, in der Ukraine als Lehrerin gearbeitet. Eigentlich hatte sie vorgehabt, sich hier an einer russischen Schule als Lehrerin zu bewerben. Das möchte sie jetzt nicht mehr.
Mark hat sich schon an einem Gymnasium vorgestellt. Er kann noch kein Deutsch, hat ein bisschen Angst, ob er mitkommt, Anschluss findet. In Kiew hatte er viele Freunde, spielte Fußball, Gitarre in einer Rockband.
Auch Yevhen steht wieder ganz am Anfang. Der Inhaber des Start-ups, das er betreuen sollte, ist in der Ukraine. Vermutlich wird er das Unternehmen schließen.
Aber das Wichtigste ist im Moment nur eins: dass sie zusammen sind, und dass es ihnen gut geht.