Anne Janzen ist dokumentarische Familienfotografin. Ihre Leidenschaft gilt den ungestellten, authentischen Augenblicken des Familienlebens. Im Interview berichtet sie, warum klassische Studio-Porträts oft keine guten Erinnerungen schaffen, was dokumentarische Familienfotografie ist, welche Momente sie besonders gern festhält – und warum nicht nur Mütter, sondern auch Väter unbedingt fotografieren sollten.

Text: Laura Geyer, Fotos: Anne Janzen

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Anne, du bist dokumentarische Familienfotografin. Was ist das genau – und wie unterscheidet es sich von klassischen Familien-Shootings?

Bei klassischen Shootings ist oft die ganze Familie gestresst: fremder Ort, ungewohnte Kleidung, künstliche Posen. Dann sollen alle lächeln und wie eine Bilderbuchfamilie aussehen. Das klappt oft nicht, und das sieht man auf den Fotos. Die Porträts spiegeln häufig nicht die Personen wider. Dann ist es  schwierig, sich später damit zu identifizieren.

Mit geht es stattdessen darum, Familien mit all ihren Besonderheiten zu dokumentieren. Dafür begleite ich sie im Alltag oder bei besonderen Anlässen wie Einschulung oder Taufe. Ohne Anweisungen, ohne Inszenierung. Ich mache Porträts in Situationen, in denen sich alle wohlfühlen – kuschelnd im Bett, ins Spiel versunken. Kinder müssen nicht lächeln, auch nachdenkliche Momente sind schön.

Außerdem nehme ich das ganze Drumherum mit auf: die Wohnung, den Garten, die Interaktionen zwischen den Familienmitgliedern. So entstehen authentische Bilder, die die Familie zeigen, wie sie wirklich ist.

Dokumentarische Fotografie hat aber trotzdem einen ästhetischen Anspruch, das sind keine Schnappschüsse. Die Bilder müssen aussagekräftig sein, man soll auch nach Jahren noch verstehen, was sie erzählen. Wie eine Fotoreportage. Das schafft echte Erinnerungen, mit denen Kinder und Eltern später noch einmal in den Moment eintauchen können.

Wie bist du zum dokumentarischen Stil gekommen?

Fotografie war schon immer mein Hobby. Beruflich habe ich eigentlich was anderes gemacht, ich war in der Medienwirtschaft tätig. Als 2014 mein erster Sohn zur Welt kam, habe ich angefangen, ihn zu fotografieren und wurde bald auch im Freundeskreis immer mehr angefragt. 2016 kam mein zweites Kind. Anstatt in meinen alten Job zurückzukehren, habe ich mich intensiv in Familienfotografie fortgebildet und ein Gewerbe angemeldet.

Am Anfang habe ich diese klassischen Newborn-Shootings gemacht, weil man das eben so macht. Dann kam Corona. Man durfte nicht mehr so nah an Menschen ran, konnte Neugeborene nicht mehr platzieren. Das war der Ausschlaggeber, dass ich gesagt habe: Ich mache das nicht mehr.

Anne Janzen, Jahrgang 1986, fotografiert seit ihrer Kindheit. Aber erst, seit sie selbst Mutter ist, weiß sie, wie flüchtig die Erinnerungen an kleine Details des Alltags sind, wie schnell Kinder wachsen und sich verändern.

Nach neun Jahren als professionelle Familienfotografin macht sie seit Ende letzten Jahres eine Pause, um sich verstärkt der eigenen Familie und Gesundheit zu widmen. Die Liebe zur dokumentarischen Fotografie aber bleibt.

Über Social Media und Netzwerken war ich in der Zwischenzeit in Kontakt mit der dokumentarischen Community gekommen und habe festgestellt: Das ist genau meine Art der Fotografie. Mir ist unheimlich wichtig, dass Menschen so sein dürfen, wie sie sind. Wir sind eine neurodiverse Familie und passen in das, was die Gesellschaft erwartet, nicht immer rein.

Ich habe gemerkt, wie viel Stress es verursacht, wenn man versucht, „normal“ zu sein. Deswegen fotografiere ich Familien so, wie sie sind – lachend und weinend, in stressigen und in entspannten Situationen.

Wie reagieren Kinder auf dich und deine Kamera?

Manche Kinder sind so getriggert auf Kameras, dass sie sofort mit dem aufhören, was sie tun, grinsen, eine Pose machen. Kinder vergessen das aber schneller als Erwachsene.

Was machen die Erwachsenen denn?

Die versuchen, Regie zu führen. Oft ganz unbewusst, ohne es selbst zu merken. Sie rutschen da rein, weil sie es so kennen. Deshalb finde ich Ganztagsreportagen besonders schön, wo man vom Aufwachen bis zum Schlafengehen dabei ist. Keiner schafft es, sich zehn oder zwölf Stunden kamerakonform zu sein. Irgendwann vergessen sie, dass ich da bin.

Wie läuft das ab, wenn du einen ganzen Tag bei einer Familie bist?

Ich beobachte sehr viel und versuche zu antizipieren, was als nächstes passiert, damit ich wichtige Momente nicht verpasse. Ich fotografiere viel, teilweise Serienbilder, weil die eine Zehntelsekunde der entscheidende Moment sein kann.

Manchmal erzählen die Kinder mir was oder zeigen mir Sachen – dann gehe ich natürlich darauf ein. Ich esse auch mit der Familie, trinke Kaffee. Es wäre ja gruselig, wenn da jemand den ganzen Tag stumm herumläuft.

Dieser Text ist zuerst im Newsletter „GL Familie“ von Laura Geyer erschienen. Er richtet sich an die Eltern (und Großeltern) jüngerer Kinder, hier können Sie ihn kostenlos bestellen.

Wie viele Fotos machst du in der Regel?

Wenn ich zwei Stunden bei einer Familie bin, was das Minimum ist, sind es oft 900 Bilder, bei einem ganzen Tag auch schon mal 4.000. Das wird dann runtergebrochen auf eine aussagekräftige Auswahl, die möglichst viel erzählt.

Was sind für dich die berührendsten Momente, wenn du Familien im Alltag begleitet?

Zu-Bett-Geh-Rituale sind unheimlich schön, da herrscht eine besondere Nähe und Ruhe. Oder wenn Eltern erschöpft auf der Couch liegen und die Kinder daneben spielen. Ich mag banale Alltags-Situationen: Zähne putzen, anziehen, im Garten arbeiten.

Später schaut man sich die Fotos an und sieht: Diese anstrengenden Phasen haben wir als Familie geschafft.

Ich habe mal eine Familie mit pubertierenden Jungs fotografiert, die haben zusammen Holz gehackt und rumgealbert. Eine Alltagssituation, wo die meisten gar nicht auf die Idee kommen, sie festzuhalten. Aber das ist das Leben, das irgendwann in der Art und Weise vorbei ist. Wenn die Kinder älter sind, wenn sie aus einer bestimmten Phase herauskommen.

Deswegen fotografiere ich auch gerne trotzige, weinende Kinder. Oder kranke Kinder. Ich habe ein Foto, wo mein Mann mit einem unserer Kinder auf dem Sofa sitzt, mit zerzaustem Haar und total erschöpft. Aber er ist fürs Kind da und tröstet es. Auch das gehört zum Familienleben dazu und darf erzählt werden. Später schaut man sich die Fotos an und sieht: Diese anstrengenden Phasen haben wir als Familie geschafft.

Gibt es ein Shooting oder eine Familie, die dir bis heute besonders im Kopf geblieben sind?

Das war eine Familie, die ich ehrenamtlich fotografiert habe. Der Vater war Autist, der zehnjährige Sohn auch. Der sechsjährige Junge war mehrfach schwerstbehindert. Mit Autisten ins Fotostudio zu gehen funktioniert überhaupt nicht.

Ich habe sie bei einem typischen Spielplatz-Ausflug begleitet. Der Vater konnte sich im Hintergrund halten, wie er das immer macht. Der hyperaktive Kleine konnte rumturnen. Niemand musste etwas tun, wozu er nicht in der Lage war. So haben sie wunderschöne Porträts erhalten – ohne dass sich jemand verbiegen musste.

Ich habe auch Sternenkinder ehrenamtlich fotografiert. Da funktioniert die dokumentarische Herangehensweise ebenfalls gut. Ich kann die Zeit festhalten, die die Eltern mit ihrem noch lebenden oder bereits verstorbenen Kind haben, so, wie sie ist. Die Eltern dürfen weinen, kuscheln. Sie dürfen so sein, wie sie in dem Moment sind.

Wie ist das für dich, solche Situationen zu fotografieren?

(Überlegt kurz) Wenn es anderen Menschen schlecht geht, versuche ich zu helfen, indem ich etwas tue. Fotos sind hilfreich, weil sie Erinnerungen schaffen. Wahrscheinlich bin ich auch auf dem autistischen Spektrum. Ich kann mir vorstellen, dass es das Allerschlimmste ist, sein Kind zu verlieren. Viele fangen dann an zu weinen und sind nicht mehr in der Lage zu helfen. Ich gerate in den Modus: Was kann ich tun, um zu helfen?

Natürlich fotografiere ich lieber gesunde Neugeborene. Aber es ist für mich wichtig, das Leben so zu zeigen, wie es ist. Und da gehören auch solche Schicksalsschläge dazu. Deswegen ist das dokumentarische Fotografieren für mich so richtig und wichtig.

Die meisten Eltern möchten lieber nur schöne Fotos.

Das ist ein Gesellschaftsphänomen. Wir leben in der Zeit von Social Media, Foto-Filtern, Schönheits-OPs, Status-Symbolen und so weiter. Da möchte man sich selbst auch bestmöglich darstellen, alles soll perfekt aussehen. Probleme und Schwächen werden ausgeblendet.

Aber wenn meine Kindern klassische Porträts von sich anschauen, fragen sie: „Wer war da noch? Was haben wir da gemacht?” Die Bilder erzählen ihnen zu wenig.

Wo andere fragen: Warum fotografiert man das?, sage ich: Das ist unser Leben.

Hast du ein Lieblingsfoto von deiner eigenen Familie?

Ich habe mehrere Favoriten. Eines entstand, als ich auf einem Ausflug versucht habe, ein klassisches, gestelltes Familienbild zu machen. Ich habe meinem Mann und den Kindern gesagt: Stellt euch mal hier vor die Wand. Das haben sie gemacht – mit dem Rücken zu mir (lacht). Das habe ich dann so fotografiert.

Wir haben auch Fotos mit fürchterlich schreienden Kindern drauf, die ich sehr mag. Wo andere fragen: „Warum fotografiert man das?”, sage ich: Das ist unser Leben. Der Große war anderthalb Jahre lang ein Schreikind. Und er tanzt bis heute immer irgendwie aus der Reihe. Das sieht man sehr schön auf Fotos, die andere Fotografen von uns gemacht haben. Da gibt es zum Beispiel eins, wo wir alle an einer Brücke stehen und gucken, nur der Große hängt außen an der Brücke. Das zeigt uns als Familie mit all unseren Eigenarten.

Auf diesen Fotos bin ich dann auch mal mit drauf. Sonst fehle ich meistens in den Bildern. Mein Kleiner fing mal vor unserer Fotowand an zu weinen und fragte: „Mama, wo bist du denn? Warst du nie dabei?“

Das Phänomen betrifft nicht nur dich als Fotografin, sondern sehr viele Frauen. Es gibt sogar einen Begriff dafür: Gender-Foto-Gap. Was sagst du deinem Mann, was würdest du anderen Vätern sagen: Warum sollten sie unbedingt ihre Frauen ablichten?

Um später Erinnerungen zu haben. Je länger die Zeit zurückliegt, desto wertvoller werden die festgehaltenen Momente. Besonders wenn ein Elternteil irgendwann nicht mehr da ist, bereut man es, nicht fotografiert zu haben.

Familienfotos sollten von Liebe, Hingabe, Fürsorge erzählen, von Herausforderungen, die man gemeistert hat. Und da gehören auch die Mütter dazu.Wenn man fotografiert, wie die Mutter sich kümmert, zeigt man als Partner: Das ist mir wichtig. Ich sehe deine Arbeit, ich schätze sie wert. Und dem Kind macht man auch ein großes Geschenk, wenn man ihm später zeigen kann, wie schön es zusammen war. Mit allen.


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ist freie Reporterin des Bürgerportals. Geboren 1984, aufgewachsen in Odenthal und Schildgen. Studium in Tübingen, Volontariat in Heidelberg. Nach einem Jahr als freie Korrespondentin in Rio de Janeiro glücklich zurück in Schildgen.

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