Kristina Menninghaus ist Therapeutin für Kinder und Jugendliche. Foto: Thomas Merkenich

Weltweit sind antidemokratische Bewegungen auf dem Vormarsch. Die gesellschaftliche Bereitschaft, die Meinung des anderen anzuhören und zu respektieren, scheint immer kleiner zu werden. Umso wichtiger, findet Kinder- und Jugendlichentherapeutin Kristina Menninghaus, unsere Kinder auf dem Weg zu demokratisch denkenden Persönlichkeiten zu begleiten. Wie das geht, vom Kindergarten- bis ins Grundschulalter, lest ihr hier.

„Verstehen ist das Tor zur Verständigung. Verständigung ist das Tor zum Verstehen.“

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Diese Textzeile steht über dem bunt beleuchteten Friedenstunnel in Bremen. Die Idee dazu hatte die Künstlerin Regina Heygster, als Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001. Der Friedenstunnel steht für Weltoffenheit, er symbolisiert das Miteinander der Kulturen und Religionen.

Ich habe den Tunnel auf einer Weiterbildung in Bremen kennengelernt. Er hat mich sehr berührt und auch nachdenklich gestimmt, da wir seit einigen Jahren weltweit vermehrt antidemokratischen Bewegungen ausgesetzt sind, die ich als sehr bedrohlich empfinde.

Die gesellschaftliche Bereitschaft, die Meinung des anderen anzuhören und zu respektieren, vielleicht sogar zu verstehen – nicht zu übernehmen! – scheint nicht mehr das höchste Gut zu sein.

Wir haben uns nach dem zweiten Weltkrieg mühselig aus autoritären, gewaltvollen und höchst manipulativen Strukturen herausgearbeitet und die Bewältigung der Traumata transgenerational begonnen. Mir erscheint es sehr wichtig, an diesen Errungenschaften festzuhalten und daran weiterzuarbeiten.

Wie werden Kinder freie Wesen mit eigener Meinung?

Als Eltern, aber auch als Erzieher:in oder Lehrer:in, stellt sich die Frage, wie wir Kinder auf dem Weg zu freien Wesen mit einer eigenen Meinung begleiten können.

Kinder beginnen ab etwa dreieinhalb Jahren in Kleingruppen mit anderen Kindern zu spielen. Vorher spielen sie eher neben anderen Kindern, bleiben dabei aber vorrangig für sich. Wenn sie anfangen, sich anderen gleichaltrigen Kindern zuzuwenden, formt sich ihr eigenes Ich weiter aus, und das soziale Ich gewinnt an Bedeutung.

Es ist sehr wichtig, ein Kind nicht für sein Handeln zu bestrafen, sondern es darin zu unterstützen, sich selbst und den anderen zu verstehen.

In dieser Zeit gibt es oft Streit, wenn Kinder z.B. anderen Kindern ein Spielzeug wegnehmen oder etwas Gebautes zerstören. Bereits in diesem Alter können wir mit Kindern – nachdem wir sie beruhigt haben – den oben stehenden Satz anwenden: indem wir ihnen zuhören und zwischen ihnen vermitteln.

Dabei ist es sehr wichtig, ein Kind nicht für sein Handeln zu bestrafen, sondern es darin zu unterstützen, sich selbst und den anderen zu verstehen.

Kindergartenkinder: Konflikte sinnvoll lösen

Wenn zwei Kinder dasselbe Spielzeug haben möchten, kann eine Lösung sein, dass beide es nacheinander für eine bestimmte Zeit benutzen dürfen. Wenn ein Kind das Gebaute eines anderen zerstört, kann man ihm dabei helfen zu verstehen, wie sich das andere Kind fühlen könnte. So wird es ihm möglich, sich zu entschuldigen oder vielleicht das kaputte Bauwerk wieder mit aufzubauen.

Dabei geht es nicht darum, dem Kind vorwurfsvoll gegenüberzutreten, sondern seine Sichtweise zu erweitern. Ein dreieinhalbjähriges Kind kann sein Handeln nicht so reflektieren wie wir Erwachsenen. Es handelt ohne böse Absicht schneller aus dem Affekt.

Bei Kindern im Kindergartenalter ist es auch wichtig, manchmal eine klare Grenze zu setzen und etwas zu verbieten.

Diese kleinen Momente erscheinen trivial, vielleicht auch anstrengend, und doch sind sie wichtige Bausteine für die gesunde Entwicklung von Kindern.

Bei Kindern im Kindergartenalter ist es auch wichtig, manchmal eine klare Grenze zu setzen und etwas zu verbieten. Das erscheint manchen Eltern vielleicht machtvoll und unangemessen, ist aber unerlässlich, da Kinder in diesem Alter kognitiv noch nicht in der Lage sind, bei allen Themen zu partizipieren.


Dieser Text ist zuerst im Newsletter „GL Familie“ von Laura Geyer erschienen. Er richtet sich an die Eltern (und Großeltern) jüngerer Kinder, hier können Sie ihn kostenlos bestellen.


Grundschulkinder: viel Nährboden für Streit

Im Grundschulalter werden die Themen in der Peergroup komplexer. Im besten Fall gelingt es Kindern, in festen und auch flexiblen Gruppen zu spielen und sich zu entwickeln. Auch in diesem Alter gibt es viel Nährboden für Streit: Welches Spiel wird gespielt? Wer darf mitspielen? Wer setzt sich durch? Wer gibt nach?

Wenn eine Gruppe in einen destruktiven Prozess gerät, ist es wichtig, dass eine erwachsene Person eingreift und vermittelt.

Die Diskussionen bei der Spielfindung haben durchaus demokratischen Charakter, es kann jedoch noch schnell passieren, dass kein Spiel gefunden wird und die Gruppe verzweifelt auseinandergeht oder es zu bösen Streits mit Anfeindungen und Anschuldigungen bis hin zu körperlicher Gewalt kommt.

Wenn eine Gruppe in einen destruktiven Prozess gerät, ist es wichtig, dass eine erwachsene Person eingreift und vermittelt. Dann kann erneut der eingangs genannte Satz zur Geltung kommen, und die Kinder können lernen, sich jeweils die Wahrnehmung, Gefühle und Bedürfnisse des anderen anzuhören und sie zu verstehen.

Der Kompromiss: Nicht immer die beste Lösung

Wenn das klappt, wird es leichter, eine Lösung zu finden, bei der die Achtung des einzelnen erhalten bleibt. Es kann sein, dass das nicht ein Kompromiss ist, denn dieser kann für die nachgebende Person sehr schmerzhaft sein. Es geht darum, eine Lösung zu finden, mit der sich alle wohlfühlen.

Ein Beispiel: Eine Gruppe von Freund:innen möchte einen Film schauen. Drei wollen den einen Film schauen und eine den anderen Film. Was nun? Naheliegend wäre es zu sagen, dass die Mehrheit entscheidet und die andere Person sich eben zufrieden geben muss. Dies kann aber dazu führen, dass sich das Kind mit der anderen Meinung während des gesamten Films unwohl, nicht verstanden und ernst genommen fühlt.

Im Grundschulalter geht es zum einen darum, dass das Kind lernt, eine eigene Meinung zu haben und zu vertreten.

Stattdessen könnte man das Kind fragen, ob es sich vorstellen kann, den Film, den die Mehrheit wünscht, zu schauen – wenn nicht, wird nochmal neu überlegt. Solange, bis ein Film gefunden wird, auf den alle Lust haben. Und möglicherweise wird eines oder mehrere Kinder dann auch einen Kompromiss eingehen, aber einer, der sich gut anfühlt.

Anderer Mensch, andere Bedürfnisse

Im Grundschulalter geht es also zum einen darum, dass das Kind lernt, eine eigene Meinung zu haben und zu vertreten. Darüber hinaus geht es darum, seine Fähigkeit zum Mentalisieren zu festigen – das heißt, die Fähigkeit, sich vorzustellen, dass der andere ein Mensch mit eigenen Bedürfnissen und Gefühlen ist, die von den eigenen abweichen können.

Im Jugendalter werden diese Prozesse noch weiter ausdifferenziert, jedoch teilweise durch die Hormonumstellungen erschwert. Das Entwickeln einer eigenen Identität steht nun mehr im Vordergrund, und die Verunsicherungen durch die pubertätsbedingten Veränderungen können dazu führen, dass Jugendliche sich einer Gruppenmeinung anpassen und dass es schneller zu Ausgrenzungen kommen kann.

Selbstreflexion: Wie wurde ich begleitet?

Ich hoffe, dass durch die genannten Beispiele deutlicher wird, wie wir Kinder auf dem Weg zu demokratisch denkenden Persönlichkeiten begleiten können.

Als Begleitpersonen sind wir natürlich auch keine tabula rasa, sondern bringen unsere eigenen durch Erziehung, Peergroup etc. gewachsenen Erfahrungen mit ein. Damit ich gut begleiten kann, muss ich reflektieren, wie ich selbst begleitet wurde: Durfte ich mitentscheiden als Kind? Wurde ich gefördert, eine eigene Meinung zu entwickeln und die des anderen zu respektieren und zu verstehen? Oder habe ich vielleicht eher Unterdrückung und Machtausübung erlebt?

Als ich Kind war, war es zum Beispiel noch sehr verbreitet, dass das Essen aufgegessen werden musste – damit am nächsten Tag das Wetter schön würde. Dies war aus der Perspektive der Nachkriegsgeneration (die sogenannten „Kriegsenkel“) nachvollziehbar, sind sie doch häufig in einfachen Verhältnissen groß geworden und mit den direkten Auswirkungen des NS-Regimes konfrontiert gewesen.

Heute distanzieren sich die meisten Eltern von der Überzeugung, dass alles aufgegessen werden müsse, damit es schönes Wetter gibt.

Das Kind bekam jedoch möglicherweise das Gefühl, dass ihm gegenüber in diesem Punkt Macht ausgeübt wurde und es keine eigene Meinung dazu haben durfte.

Heute distanzieren sich die meisten Eltern glücklicherweise von der Überzeugung, dass alles aufgegessen werden müsse, damit es schönes Wetter gibt. Stattdessen versuchen sie, das Kind darin zu unterstützen, entsprechend seines Hungergefühls zu essen, sich möglicherweise erst einmal eine kleinere Portion zu nehmen und später noch etwas nachzunehmen.

Ich wünsche uns allen, dass wir uns Zeit nehmen, uns selbst und den anderen zuzuhören, um Brücken zu bauen und frei und vielfältig miteinander zu leben.

Ich bin Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, psychoanalytisch und tiefenpsychologisch fundiert, im ersten Beruf bin ich Diplom-Kunsttherapeutin. Ich arbeite mit Säuglingen, Kindern, Jugendlichen und ihren Familien im Alter von null bis 21 Jahren, habe eine Weiterbildung als Säuglings-, Kleinkind-,...

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