Symbolbild: Julián Amé Pixabay

Sie wüssten gar nicht, was mit ihnen los sei, sagen immer mehr junge Menschen im Beratungsgespräch. Dass sie innerlich traurig und angespannt sind, dass sie Panikattacken haben oder sich selbst verletzen, können sie sich nicht erklären – und erst recht niemandem sagen. Was es mit diesem neuen Phänomen auf sich hat und was den Jugendlichen helfen kann, schreibt Susanne Hucklenbroich-Ley von der Evangelischen Beratungsstelle Bensberg.

„Ich weiß auch nicht, was mit mir ist. Eigentlich ist doch alles gut.“

So ähnlich fangen immer mehr Beratungsgespräche mit Jugendlichen an.

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Neben jungen Menschen mit konkreten Anmeldegründen (Stress mit Eltern oder Freunden, Probleme in der Schule, Mobbingerfahrungen etc.) erscheinen seit einigen Jahren immer öfter junge Menschen, deren Anmeldungsgrund zu Beginn wenig konkret erscheint.

Während sie berichten, wie es ihnen geht, wirken sie zurückhaltend, in sich gekehrt, angespannt und traurig. Wenn man ihnen dies zurückspiegelt, sagen sie in der Regel, dass andere in ihrem Umfeld das so nie bemerken würden:

Das ist wie eine Maske – die anderen sehen die Maske – wie ich dahinter bin, weiß keiner.“ (Abiturientin, 17 Jahre)

Von meinen Freunden soll keiner mitbekommen, wie es mir wirklich geht, die denken sonst – mit dem ist etwas nicht in Ordnung.“ (Neuntklässler, 15 Jahre).

Wenn man weiter fragt, wie es ihnen wirklich geht, benennen die meisten eine „tiefe Traurigkeit“ und „hohe innere Anspannung, die irgendwann raus muss“. Manche erzählen, dass sie zu Hause in ihrem Zimmer leise vor sich hin weinen: „Ich drücke mir ein Handtuch vor den Mund, damit mich keiner hört, bis ich vor Erschöpfung nicht mehr kann“.

Andere berichten von verstärkter Atmung bis hin zur Atemnot, von einer Unfähigkeit sich zu bewegen und großer Angst. Bei diesen Jugendlichen kommt es häufig zu Panikattacken und / oder selbstschädigendem Verhalten, zu aggressiven Ausbrüchen, zu Substanz- oder Alkoholmissbrauch.

Eigentlich alles gut?!

Bei diesen Beschreibungen stellt sich die Frage, weshalb die Jugendlichen und jungen Erwachsenen davon ausgehen, dass „eigentlich alles gut ist“?

Tatsächlich gibt es oberflächlich betrachtet oft keinen Grund, sich schlecht zu fühlen. Die meisten dieser jungen Menschen sind gut in der Schule, besuchen das Gymnasium und leben in geregelten familiären Verhältnissen, als Trennungskinder oder mit Eltern, die oft gut situiert als Doppelverdiener tätig sind.

Innerhalb der Familien wird gut füreinander gesorgt, die Eltern oder Patchworkeltern werden als zugewandt beschrieben. Auch diese berichten bei Rückfragen, man sei bislang gut miteinander im Kontakt gewesen und könne sich nicht erklären, wieso es den Kindern so schlecht gehe. Was ist also der Hintergrund?

Leistung und soziale Kontrolle

Als auslösende Bedingungen benennen die jungen Menschen:

  1. Die Sorge, den Anforderungen in der Schule nicht gewachsen zu sein.
  2. Ein hohes Maß an sozialer Kontrolle unter Freunden und Mitschüler:innen, insbesondere durch Handychats und soziale Medien.

Darüber hinaus werden in den Gesprächen weitere Stressbedingungen sichtbar:

  • Individuelle Stressmomente innerhalb der Familie. Dazu gehören z.B. Streit und Auseinandersetzungen vor einer Trennung der Eltern, die den jungen Menschen noch gut in Erinnerung sind. Oder die Berufstätigkeit beider Eltern, die an einen sehr klaren und stringenten Tages- und Wochenablauf gebunden ist, in dem alle gut zu funktionieren haben. Manchmal gibt es auch konkrete Traumata, wie Krankheit oder Tod von Familienangehörigen.
  • Äußere Bedingungen der Gesellschaft. Genannt werden hier die massiven Einschränkungen und Ängste in der Corona-Zeit sowie Ängste vor Kriegsszenarien, Klimakatastrophen und einer ungewissen Zukunft.

Wenn wir über diese auslösenden Bedingungen sprechen, ist es für viele das erste Mal, dass sie sie als „negativ, schlecht, böse“ etc. benennen und beschreiben dürfen. Viele äußern sich darüber erleichtert und sagen, dass sie das so noch nicht gesehen hätten.

Darüber spricht man nicht

Diese Themen auch mit Freunden und Familie anzusprechen, können sich viele aber nicht vorstellen. Sie sagen zum Beispiel: „Das darf man nicht, dann fliegt man direkt raus oder ist total out“ oder „So etwas machen wir nicht in unserer Familie“.

Es scheint eine Art ungeschriebenes Gesetz zu geben: Man ist nicht böse miteinander, man darf andere nicht angreifen, und man darf seine eigene Sichtweise nicht auf andere übertragen, weil man sie damit verletzen könnte.


Dieser Text ist zuerst im Newsletter „GL Familie“ von Laura Geyer erschienen. Er richtet sich an die Eltern (und Großeltern) jüngerer Kinder, hier können Sie ihn kostenlos bestellen.


Man darf nicht sagen, dass es einem schlecht geht oder dass man sich schlecht fühlt. Da beißt man lieber ins Handtuch, damit das Weinen und die Atemnot nicht gehört werden, oder man greift zu Ersatzhandlungen, die Traurigkeit, Angst und Panik reduzieren sollen.

Es hilft sowieso nichts und keiner kommt“, sagen viele Jugendliche. Also machen sie gute Miene zum bösen Spiel, und daraus folgt: „Wenn ich es mir recht überlege, ist alles doch eigentlich nicht so schlimm“ – „eigentlich ist doch ALLES GUT!

Emotionaler Perfektionismus: Alles unter Kontrolle

Frustration, Traurigkeit, Ärger – all das darf gar nicht erst gedacht geschweige denn gesagt werden. Man passt sich an, aus Angst allein dazustehen oder negativ aufzufallen. Unangenehme Gefühle werden unterdrückt, dürfen nicht da sein und müssen kontrolliert werden.

Die britische Psychologin Annie Hickox spricht hier von einem „Emotionalen Perfektionismus“

„Normalerweise denken wir bei einem Perfektionisten an jemanden, der bei der Arbeit, zu Hause oder vielleicht bei seinem Aussehen unmögliche Standards erreichen will. Emotionaler Perfektionismus bedeutet jedoch, dass wir unmögliche Maßstäbe an unsere tatsächlichen Gefühle anlegen („Ich sollte in der Lage sein, meine Emotionen zu kontrollieren”).“ 1

Emotionaler Perfektionismus führt ihrer Meinung nach zu einem Kreislauf von Angst, negativen Gedanken und Gefühlen und damit zu einer hohen inneren Anspannung, auch ausgelöst durch eine „Hoffnungslosigkeit, nie aus dieser Tretmühle herauszukommen“.

Wie es wirklich gut werden kann

In den Beratungsgesprächen versuchen wir, diese Zusammenhänge sichtbar zu machen und Möglichkeiten zu finden, mit denen man Ärger, Wut, Traurigkeit und andere als „negativ“ konnotierte Gefühle erst einmal zulassen und dann im zweiten Schritt bearbeiten kann.

Die Schweizer Psychoanalytikerin Verena Kast benennt die Fähigkeit, Ärger äußern zu können, als Grundbedingung für Ich-Stärke, Selbstwertgefühl und Beziehungsfähigkeit. Wenn man Ärger äußert, nimmt man sich ernst und zieht gleichzeitig eine Grenze, an der man sich mit anderen reiben und verbinden kann:

Wer Ärger zulässt, glaubt daran, dass man das Leben noch verändern kann. Wer den Ärger nicht mehr zulässt, glaubt nicht mehr daran.2

Auch, wenn dann immer noch Arbeit vor uns liegt: Wenn die jungen Menschen erst einmal Handlungsfähigkeit erleben, in einer für sie gefühlt ausweglosen Situation, ist das eine gute Grundlage dafür, dass eben nicht alles hoffnungslos erscheint und vielleicht … doch ein bisschen gut werden kann!

1 Annie Hickox: „Emotional Perfektionism – A hidden trigger of anxiety“, (Stand Jan. 2024) Übersetzung mit DeepL.com

2 Verena Kast: „Vom Sinn des Ärgers – Anreiz zu Selbstbehauptung und Selbstentfaltung“, Freiburg im Breisgau, 2023


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  1. ….meines Erachtens ein Ergebnis unkontrollierter Migration und leider
    haarsträubender Coronapolitik. Da sind Menschen gekommen die eine Flucht hinter sich haben. Der stärkste gewinnt. Das hat sich in das „normale“ Leben übertragen. Diese Mentalität ist den wohlbehüteten
    Kindern sicherlich sehr fern. Desweiteren waren die unterrichtsfreien Zeiten während Corona für die Schüler das reine Gift. Das sich nur gut betuchte damals die benötigten Endgeräte für einen präsenzfreien Unterricht leisten konnten scheint anscheinend doch eher im Nachhinein ein Nachteil zu sein.

    Schönen Tag

  2. so, zum Ende des ‘Heiligen Geistes’, verfasse ich dann doch mal meinen Kommentar,
    des wirkt in mir, seit dem erscheinen
    ist das nicht heftig, # krass
    hier wird von der inneren Not vieler Jugendlicher berichtet
    – und zwar taggleich, mit dem Artikel der vergeblichen Suche nach dem neuen Ort –
    von Sprachlosigkeit, tiefer Traurigkeit, Atemnot, Panikattacken, Selbstverletzung,
    und kein einziger Mensch hat diesem Bericht, ich weiß gar nicht wie ich schreiben soll- Respekt gezollt, Anerkennung geäußert, Mitgefühl ausgedrückt, Verständnis, Nachempfinden _ ich gebe dies alles an dieser Stelle. Ich danke den Institutionen die diese Beratungsstellen möglich machen (auch wenn dies gerade besonders makaber ist, evangelische Kirche…), den Menschen vor Ort die dort arbeiten und den Jugendlichen und jungen Erwachsenen für ihren Mut sich frühzeitig aufzumachen. Hilfe zu holen, zu suchen, auszusprechen, wahrzunehmen, bestärkt darin werden, sich selbst gegenüber fühlen zu dürfen, dass eben längst NICHT alles gut ist, auch nicht eigentlich.
    Ich weiß sehr genau worüber Sie in Ihrem Artikel schreiben, rückblickend und aktuell. Ich bin nicht mehr Jugendliche, bin damals an keine dieser Stellen gegangen, (gab es die überhaupt schon?), hatte maximal das Jugendamt als Hilfeinstanz im Kopf, – ich habe still und leise und unbemerkt gelitten und wurde auch nicht von pädagogischem Fachpersonal angesprochen, begleitet, geschützt, weder im Kindergarten, Hort, Schulen . es gab ganz sicher Auffälligkeiten, doch es wurde eben vielfach geschwiegen, war ja jetzt auch nicht so schlimm, war ja “eigentlich alles gut”, nicht so massiv hervorstechend.
    so habe ich mich angepasst, dies versucht und bin doch ‘eigentlich’ gescheitert, weil eben nichts gut war.
    zur Formulierung des Emotionalen Perfektionismus fällt mir Emotionale Vernachlässigung ein
    Und es wird ganz sicher nicht gut, wenn emotionale Stützen wie das Jugendzentrum oder die Pfadfinder wegbrechen – ihren sicheren Ort verlieren. Unsicherheit haben wir allerorts mehr als ausreichend.
    Ich bin zutiefst betroffen, dass diese Artikel taggleich erschienen und sich alle auf die Politik stürzen .(ja ich auch) .. weil ich es für ein absolutes Unding halte, wie dort vorgegangen wurde, egal von wem! (laut dem was wir hier und anderenorts lesen dürfen, nichts konkretes wissen wir ja nicht)
    am Ende: sind doch genau diese jungen Menschen wieder nicht gehört worden, nicht einbezogen, nicht informiert –
    und hier, wird der Innere Schrei, der Schmerz, die Tiefe der Auswirkungen benannt und schweigen
    ich mag dazu nicht schweigen, ich kann dazu nicht schweigen, ich kann sagen, wenn es keine Hilfe gibt, frühzeitig, dann zieht sich dieses üble sprachlose traurige irritierte alleine Gefühl durch und dann leben wir in dieser Gesellschaft wie wir sie heute vorfinden .. denn ganz ehrlich, auch in der Welt der ‘Großen’, die Erwachsenen, wer sagt denn da wie es ihr und ihm wirklich geht?
    Das stille Schweigen wurde übermittelt, über Generationen und wer ausspricht fällt auf, und fällt raus
    Liebe Redaktion, liebe Frau Hucklenbroich-Ley – Dankeschön für diesen Artikel,
    so wertvoll, so tiefblickend, so auswirkend – für uns alle