Am 6. Mai stellt „Wort & Kunst“ eine neue bergische Anthologie unter dem Titel “Wahn und Sinn” vor. Wir präsentieren ausgewählte Geschichten aus dem Band vorab.
Mehr Informationen zu dem Projekt, siehe auch unten

Georg Sturmberg

Milchstraße

Das ist schwere Sünde“, hörte er seinen Großvater ausrufen; „Hast du den Verstand verloren?“, trat sein Vater hinzu.

Aber die hatten gut reden in seinem Kopf. Der Hof war seit stolzen 200 Jahren in der Familie. Ja, stolz waren seine Vorfahren gewesen. In der Diele hing früher ein Spruch in Fraktur, den er als Kind nicht verstand, der ihn geradezu verstört hatte: „Ohne Kampf und Trutz wär’ die Welt nichts nutz, ohne Bauer und Brot wäre sie tot“, hieß es da. Alte Bauernweisheit. Weit vor den Nazis, trotzdem furchtbar. Nützlich war sie im „Dritten Reich“ und der Großvater schätzte es, dass die ihm ansonsten verhassten Nazis die Bauern hofierten. Der Hof wurde „Erbhof“. So „pragmatisch“ war der Alte und als die Amerikaner 1945 den Hof besetzten… Ach, was sollte der alte Mist. 200 Jahre hin oder her, was nutzte ihm das? Er wusste nicht, ob er hier und jetzt auf sich stolz sein konnte. Eher nicht!? Was er heute gemacht hatte, war eigentlich verrückt, einsam, meschugge.

„Sünde“? Das sagte ihm nichts, aber gut ging es ihm nicht. War das das Gewissen? Hatten denn die Verantwortlichen ein Gewissen, die alles ausgelöst hatten? Hier war doch mindestens pari, versuchte er sich zu beruhigen. Klar, nach der Tat legt man sich alles zurecht. Dennoch: Er hatte ein Zeichen gesetzt …setzen wollen!

Die Bauern wurden nach und nach kaputt gemacht, das hatte sein Vater schon vor 40 Jahren kommen sehen; heute mussten das doch alle begreifen. Vielleicht war der alte Spruch irgendwie doch richtig? „Kampf und Trutz“, das galt für alle, so war das Leben überhaupt. Und „Bauer und Brot…“, wenn man all den Quatsch wegließ, stimmte es dann nicht? Warum ließ ihn das gerade heute nicht los? Seine Frau und seine Söhne hielten ihn heute für „außerirdisch“.

Hätte er noch den Spruch zitiert, dann hätten sie gleich einen Arzt gerufen! Und hätten gesagt: „Du befindest dich nicht mehr in den Bauernkriegen!“ Vielleicht würde sich morgen alles lichten, wenn, ja wenn wenigstens der Jürgen ihm zusprach? „Tolle Aktion“, wünschte er sich dessen Reaktion, „denen hast du es gezeigt!“

Was war eigentlich genau passiert? Heute war Samstag. Der Hofladen war bis nachmittags zu, denn seine Frau konnte nur heute besorgen, was sie zukaufen mussten; die Kunden wussten Bescheid. Seine beiden Söhne waren auch unterwegs. Er war allein auf dem Hof. Dann kam die Post. Der Postbote war ihm fremd, stieg nicht mal vom Rad ab und warf hastig Brief und Zeitung vor die Tür, radelte dann gleich zurück zur Straße. Es war wie „hingerotzt“. Die Einstellung mochte er nicht.

Er hob die Post auf: Die Zeitung kam am Abend dran. Der Fensterbrief, der war vom Verbund, wohl nicht wichtig. Aber neugierig öffnete er ihn doch. Was schrieben die da?

„…bedauern wir, Ihnen mitteilen zu müssen, dass der Milchpreis von unserem Vertragspartner mit Wirkung zum Monatsende auf 27 Euro-Cent/l herabgesetzt worden ist. Verhandlungen blieben erfolglos. Bitte richten Sie sich darauf ein…“

Schon wieder? Das konnte doch nicht sein, sie hatten erwartet, der Preis ginge wieder herauf! Immer samstags kamen solche Nachrichten! Das las sich wie: Widerstand zwecklos. Das konnte auf gar keinen Fall sein! Schreiben hatte keinen Sinn. Das teilte ja der Verbund mit. Der war, anders als sie gehofft hatten, nicht mächtig, er war ohnmächtig. Was für ein Wort, dachte er, „ohne Macht“.

Aber es war ihre eigene Sache: Die Bauern mussten selbst handeln. Das Gesetz des Handelns, das war doch immer gültig! Es galt, durch den Dschungel, in den Brüssel sie Jahr für Jahr schickte, hindurch zu finden. Manche Jahre waren gut, andere wiederum gerade zu ertragen. Dann gab es irgendwann ein Stück Unabhängigkeit durch die Selbstvermarktung, im Hofladen. Aber man konnte nicht die Milch von 65 Kühen direkt vermarkten! Sie brauchten den „Vertragspartner“, den allmächtigen Lebensmittelkonzern. Damit ging es auch lange gut.

Seine Gedanken kreisten jetzt um Hof und Herde. Aber was tun? Er sollte sich mit dem Nachbarbauern, seinem besten Freund, absprechen. „Der Jürgen ist im Holz“, war die Auskunft am Telefon. „Jetzt, im Mai?“ „Ja, wegen dem Windbruch. War bei uns heftig diesmal!“ Das war schlecht.

Wen gab es noch, mit dem man was richtig Aufrüttelndes hätte überlegen können? Der Schieferhof war Nebenerwerb, kein Leidensgenosse. Den Kramer hatte er eben einen Transport fahren sehen, da gab’s vielleicht mal richtig Bargeld. Dann war da noch der Streckhof. Aber mit dem Kollegen verstand er sich nicht.

Dann schoss ihm durch den Kopf: In Bergscheid, da war doch eine Filiale ihres „Vertragspartners“; das war nicht weit; es war Samstagmittag, also Publikum. Jeder kaufte da doch auch Milch in Tüten und Flaschen, seine Milch nicht gerade, die kam, weiß der Teufel wo, in den Supermarkt. Aber alle wussten um den Preisverfall. Der Filialleiter würde damit bald Werbung machen. Das kam ihm recht. Die Menschen hier würden ihn sehr gut verstehen; sie würden nachdenklich werden.

Foto: Günter Helmig

Gesagt, getan! Er eilte in den Hof, sprang auf den MB-Trac und überlegte kurz: Das Wasserfass an der oberen Weide, das war’s! Das fasste 500 l. Er nahm den alten Fahrweg mit seinen Löchern und hatte bald den Abstellplatz erreicht, hängte an und ließ den Rest Wasser heraus. Von dort raste er hinunter zum Milchbehälter. Der war nicht voll, aber es reichte, um mit der Pumpe in kurzer Zeit das Wasserfass vollständig zu füllen. Dann ging es los: Vom Hof auf die Zufahrt und von dort auf die Landstraße Richtung Bergscheid.

Ihn beschäftigte nur noch sein „Wurf“, den er klar vor Augen hatte. In Bergscheid musste er links auf die Höhe abbiegen, übersah fast die rote Ampel. Bald war das Ziel erreicht. Rechts lag etwas abschüssig der Supermarkt des „Vertragspartners“. Der Parkplatz war voll, da konnte er nicht drauf. Was tun? Kurzentschlossen wendete er sein Gefährt und fuhr dicht an die Straßenkante heran. So kam der Anhänger mit dem Milchfass genau an der Zufahrt zu stehen.

Gleich kam die Überraschung!

Die ersten drehten sich schon nach ihm um, was sollte hier der Traktor mit dem Fass bei laufendem Motor? Ein kurzes Zögern. Jetzt öffnete er das Ventil. Die Milch schoss heraus. Im Nu wurde die Straße weiß; die Milch ergoss sich fast gleichmäßig den Ort hinunter und auf den Parkplatz. Er sah in offene Münder. Das hatte niemand erwartet! Die Milch war rasch herausgelaufen. Was weiter passierte, blieb im Dunkeln. Er hörte erste Rufe, ein Mensch kam mit bedeutender Miene auf den MB-Trac zu. Es wurde anscheinend laut draußen, aber in der Kabine kam nicht viel an. Er legte den Gang ein und riss im Anfahren das Steuer nach links. Reifen quietschten. Es ging in voller Fahrt zurück. Hatte man verstanden? Oder wie musste er das deuten, was er wahrgenommen hatte.

Zu Hause fand er seine Frau endlich im Hofladen. „Die wollen uns auf 27 Cent drücken! Ich hab’ denen 500 Liter umsonst hingekippt. Aber die können sie nicht für nen Euro verkaufen!“ überschlug sich seine Stimme. Der jüngere Sohn war hinzugetreten:„Waaaas hast du gemacht?“

Dass später der Polizeiwagen in den Hof bog, merkte er erst gar nicht. Plötzlich standen zwei Polizistinnen vor ihm, er kannte sie vom Sehen, weil sie gelegentlich im Hofladen einkauften.

„Gegen Sie liegt eine Anzeige vor. Kommen Sie bitte am Montag um 9.00 Uhr zur Wache. Sie wissen ja, wo. Und bringen Sie Ihren Ausweis mit!“

———

Georg Sturmberg, geb. 1957 auf dem Buchholzer Hof an der Brüderstraße bei Bensberg-Untereschbach, lebt in Rösrath-Forsbach. Rechtsanwalt in Köln. Publikationen von Juristischem und Historischem. Hat seine erste Erzählung geschrieben.

Weitere Informationen:

  • Was Sie über “Wahn und Sinn” wissen müssen
  • Literatical: Bei dieser szenischen Lesung werden die Stücke durch Musik, Stimme und Pantomime verfremdet, sodass eine neue literarische Qualität entsteht. 6. Mai, 19.30 Uhr im Bensberger Rathaus, Eintritt frei
  • Das Buch (ISBN 978-3-940171-14-6) gibt es im Buchhandel und bei Rass
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des Bürgerportals. Kontakt: info@in-gl.de

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