Unkonventionelle Portraits mit eigenwilligem Betrachtungswinkel zeigt der Bensberger Künstler Jörg Extra in der Galerie Schröder & Dörr. Ausgehend von dokumentarischer Fotografie im öffentlichen Raum bannt er Rückenansichten anonymer Menschen auf die Leinwand. Und schafft damit Perspektiven, die den Betrachter unweigerlich in den Dialog mit den Protagonisten hineinziehen. Ein intimer Blick auf den urbanen Raum.
Text: Holger Crump. Fotos: Thomas Merkenich
„Back Views“ – Rückenansichten, so der Titel der aktuellen Ausstellung von Jörg Extra. Bei Schröder & Dörr zeigt er neue Arbeiten aus dieser Reihe: Straßenszenen aus New York, Portraits junger Frauen, Zeichnungen vom Christopher Street Day, aber auch Wimmelbilder aus der Großstadt.
Menschen, mitten im Alltag, anonym. Eingefroren in ihre Aktivitäten, die in ihrer Darstellung zuweilen an bekleidete Akte erinnern.
Allen gemeinsam ist die eigenwillige Perspektive. Jörg Extras Portraits bedienen sich fast ausnahmslos der Rückenansicht, englisch back views genannt. Ein Stilmittel, das in der Kunstgeschichte Tradition hat und vielleicht im Wanderer über dem Nebelmeer von Caspar David Friedrich sein prominentestes Motiv gefunden hat. Doch Extra entwickelt diesen Blickwinkel weiter.

Inspiration per Kamera
Initiiert werden seine Arbeiten durch Streifzüge im öffentlichen Raum, Städte rund um den Globus. Hier wählt Extra mit Unterstützung eines Freundes markante Szenerien und Personen aus, die er beiläufig mit der Kamera dokumentiert. Sie dienen ihm als Inspiration.
Der Künstler
Jörg Extra (geboren 1960 in Köln) studierte von 1981 bis 1986 Kommunikationsdesign an der Bergischen Universität in Wuppertal. Nach seinem Diplom arbeitete er als freiberuflicher Illustrator u.a. für führende deutsche Wirtschaftsmagazine. Seit 1990 als Künstler aktiv, lebt und arbeitet in Bensberg. Weitere Details online
Ausgangspunkt seiner Werke ist die Leinwand, die Extra mit lokalen Zeitungen grundiert. Sie sind als Verweis auf den jeweiligen Lebensort der dargestellten Protagonsiten zu verstehen.
Die Fotos werden als Zeichnung auf das Papier übertragen. In einigen Werken bleibt die Zeichnung bestehen, sie entwickeln eine eigentümliche Würde, ähnlich japanischer Grafik.
Erinnerungsfetzen
Das Gros der Zeichnungen arbeitet Jörg Extra mit den Mitteln der Malerei weiter aus. Klassische Mischtechnik, die durch geschicktes Spiel mit Linien und weißen Flächen Akzente setzt, Tiefe schafft, Lichteinfälle suggeriert. Verwischungen, Verläufe, durchschimmernde Typografie lassen die Arbeiten pulsieren. Verweisen auf die Stimmung, die der Künstler mit seiner Kamera als optische Notiz abgespeichert hat.
So entstehen Gemälde wie Erinnerungsfetzen aus dem Kurzzeitgedächtnis, fast wie das Nachleuchten von Lichtimpulsen auf der Retina des Augapfels.
Die Ausstellung vermittelt durch die Hängung älterer und neuerer Arbeiten einen guten Einblick in die Entwicklung dieser Werkgruppe, die ihren Ausgang im Fotorealismus genommen hat.
Backing views im Zoom
Zugleich zeigt die Schau bei Schröder & Dörr, wie sich Jörg Extra – ausgehend von Straßenszenen in New York – dem Torso zuwendet, und diesen in unzähligen Varianten in der Rückenansicht abzubilden. Anonyme Passanten, aus Millionenstädten, in Bewegung, vielleicht im Austausch mit einem unsichtbaren Gegenüber.
Die Perspektive ist u.a. aus der Romantik bekannt. Sie animiert den Betrachter, den Bildinhalt gemeinsam mit dem dargestellten Protagonisten zu erkunden (vgl. das Beispiel von Caspar David Friedrich). Jörg Extra geht jedoch einen Schritt weiter, zoomt extrem auf sein Sujet, blendet die Umgebung völlig aus.
Der Torso wird meist vom Kopf bis zum Oberschenkel dargestellt. Mal seitlich im Anschnitt, mit Spannung ins Format gesetzt. Auf wenigen Zentimeter der Leinwand schafft der Künstler Übergänge von detailgetreuen, farbgewaltigen Plastizität hin zur vagen Andeutung mit der Linie.
Sogwirkung
Die gesichtslosen Portraits entfalten so eine eigentümliche Sogwirkung. Die Perspektive zwingt den Betrachter unweigerlich zum Dialog mit den Portraitierten. Gesicht und Mimik fehlen, Emotionalität wird ausgespart. Rückschlüsse auf die Person lassen sich lediglich durch angedeutete Accessoires, Kleidung, Frisur oder Anatomie ziehen.
Ein Spannungsfeld zwischen heimlicher Neugier und gebotener Gleichgültigkeit tut sich auf. Urbaner Alltag, wie man ihn selbst von Shopping Malls und öffentlichen Plätzen kennt: Die Wissbegier lässt einen doch hin und wieder über Passanten sinnieren, die man zufällig trifft.

Intimer Archivar
Insofern liegt etwas Privates über den Rückenansichten, die Jörg Extra auf seinen Städtereisen einfängt und auf die Leinwand bringt. Ein Hauch subtiler Nähe, den eine Frontansicht nie transportieren könnte. Vielleicht ist er so etwas wie ein intimer Archivar des urbanen Raums?
Zugleich erzählt der Künstler von der Einsamkeit, der Isolation, vielleicht auch von der Kommunikation einer Gesellschaft, die im Realen immer weniger stattfindet, weil sie ins Virtuelle abgewandert ist. Mit dem Handy in der Hand, das den Nutzer zu der so typischen Haltung zwingt.
Die Ausstellung
Back Views: Arbeiten auf Leinwand und Papier von Jörg Extra
1. September bis 21. Oktober 2023
Galerie Schröder & Dörr, Wingertsheide 59, 51427 Refrath
Di bis Fr 14 bis 18.30 Uhr, Sa 11 bis 14 Uhr (Ferien 29.9. bis 4.10.2023)
Kontakt: 02204/6 41 70, schroeder-doerr@netcologne.de
Es liegt im Auge des Betrachters, Jörg Extras Szenerien weiterzudenken. Die feinen Rätsel rund um das Wer-Wann-Wo-Warum aufzudröseln.