Foto: Woche des Sehens/Oliver Ziebe

Viele Blinde bewegen sich mit ihrem Langstock relativ sicher in der Öffentlichkeit. Allerdings sind sie dabei auf die Rücksicht ihrer Mitmenschen angewiesen. Eine ganz besondere Rolle spielen die Radfahrer, berichtet unsere Autorin. Und die Klingel.

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In der letzten Folge dieser Serie zur Inklusion im Alltag hatte ich erklärt, wie wir uns mit dem Blindenlangstock auf dem Bürgersteig orientieren – und dass wir manchmal gezwungen sind, abrupt die Richtung zu wechseln. Schon bei Begegnungen mit Fußgängern führt das zu Missverständnissen – bei Radfahrern aber kann es für uns schnell riskant werden.

Denn viele Radfahrer sind der Meinung, es reiche aus, wenn sie mit einem Abstand von ca. einem Meter an uns Menschen mit einer Sehbehinderung vorbei rauschen. Doch diese Annahme führt schnell und viel zu oft zu gefährlichen Situationen.

Ich weiß ja nicht, dass ein Radfahrer an mir vorbei fahren wird. Und ohne dass sich dieser als Radfahrer zu erkennen gibt, kann ich das auch nicht wissen.

Jetzt stellen Sie sich mal vor, ich nehme einen meiner „eckigen” Richtungswechsel vor. Der benötigt von jetzt auf gleich mindestens 1,60 Meter: 60 cm Schrittlänge plus 1 m Stocklänge – und schon rollt ein Rad über meinen Stock oder der Stock steckt zwischen den Speichen.

Bei solchen Vorfällen sind mir schon mehrere Stöcke zerbrochen. Bisher hatte ich Glück und der Lenker hat meine Rippen verschont.

Ein Unfall und Schadenfall. Die Polizei muss kommen und den Fall aufnehmen. Ich muss nach Hause gebracht werden, weil ich das ohne mein Hilfsmittel nicht mehr alleine weiter kann. Über die Krankenkasse muss ein neuer Blindenstock beantragt und bestellt werden. Der Unfallbericht muss an die Krankenkasse weitergeleitet werden, da der Unfallverursacher für die entstandenen Kosten aufkommen muss.

Das alles ist nicht nur ein enormer Zeitverlust. Termine werden verpasst. Es ist ein enormer Stress. Und vor allem ist das so unnötig und so einfach vermeidbar.

Eine einfache Lösung für viele Fälle: Klingeln

Aber wie funktioniert das Hören bei den Radfahrern. Wie gesagt, ich kann sie meistens nicht hören, zudem nähern sie sich viel schneller als ein Radfahrer. Damit ich nicht immer bis ins Mark erschrecken, wenn sie an mir vorbei rauschen oder sogar wieder ein Blindenstock dran glauben muss, gibt es eine ganz einfache Lösung: Klingeln.

Foto: ADFC RheinBerg

Manche Radfahrer meinen es gut und sagen „Vorsicht”, wenn sie sich nähern. Daraus kann ein sehbehinderter Mensch aber nicht auf einen Radfahrer schließen. Erst einmal ist da ein Mensch. Und warum Vorsicht? Tut sich vor mir der Boden auf oder liegt da ein umgestürzter Baum. Ich weiß das nicht.

Ein „Hallo” oder „Vorsicht” sagt mir zunächst, da kommt ein Fußgänger. Dann habe ich Zeit genug, an den Wegrand zu gehen. Das kann das auch mal bedeuten, dass ich quer über den ganzen Weg laufe. Bei einem Radfahrer reicht die Zeit aber nicht, um den Weg frei zu machen. Und nicht immer sind Radfahrer so schnell in ihrer Reaktion, um rechtzeitig zum Halten zu kommen.

Autofahrer haben für Gefahrensituationen die Hupe. Beim Radfahrer ist das die Klingel. Warum sie also nicht benutzen?

Wenn ich eine Klingel höre weiß ich sofort, was los ist. Einen „eckigen” Richtungswechsel werde ich jetzt bestimmt nicht machen. Sondern bleibe gern an Ort und Stelle stehen, damit es nicht zu Kollision kommt.

Ich kann mich noch an meine eigene Radfahrzeit erinnern. Schon damals war es nicht einfach, eine gute Klingel zu finden. Viele FahrradKlingeln geben nur noch ein einfaches „Pling“ von sich. Man hört, fast im Unterbewusstsein, ein Geräusch. Man merkt auf, aber dann ist da nichts mehr zu hören.

Ähnlich geht mit das häufig. Ich laufe mit dem Stock, bin auf vielerlei Geräusche konzentriert – und dann dringt ein Ton ins Bewusstsein vor. „War da was?“ Wenn dann nichts mehr kommt, kann es schnell zu fatalen Folgen kommen.

Die alten Fahrradklingeln, mit dem mehrfach hörbaren „ring-ring-ring“ halte ich persönlich für viel sicherer.

Der Wochenrückblick in einfacher Sprache 1.12.2017

Fahrradfahrern haben mir schon häufiger gesagt, dass sie gar nicht mehr klingeln, weil sich die Fußgänger so sehr erschrecken würden. Interessant finde ich, dass ich das Aussage immer nur von Radfahrern hörte.

Von Fußgängern wird genau das Gegenteil berichtet. Und nicht nur von Menschen mit Sehbehinderung. Viele Gesunde mit Adleraugen, Menschen die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, egal ob mit Rollator oder Stützstock, Menschen mit psychischen Erkrankungen und andere wünschen sich ebenfalls das Radfahrer klingeln.

So zaubern Sie ein Lächeln in mein Gesicht

An dieser Stelle möchte ich aber auch berichten, dass es schon jetzt viele Mitmenschen gibt, mit denen eine Begegnung ganz fantastisch klappt. Auf meinem, fast täglichen Weg entlang eines gemischten Fuß- und Radfahrweg hat es in den letzten Jahren zwischen mir und Radfahrern viele Gespräche gegeben. Vielen verstanden nach dem Gedankenaustausch, warum es so wichtig ist, als Radfahrer zu klingeln. Seitdem ist unsere Begegnung entspannt.

Ihnen allen einen lieben Gruß. Schön, das ich Ihnen begegnen durfte!

Jeder Radfahrer, der klingelt, zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht. Jeder Radfahrer, der klingelt, läßt mich meinen Weg entspannt fortsetzen, ohne vor Angst und Schreck verkrampfte Muskelfasern.

Und auch für die Radfahrer ist es viel netter: Beim Vorbeifahren begleitet sie ein Lächeln, kein entsetzter Aufschrei.

Wie schön die Welt doch ist! Der Klingel sei Dank.

Sie interessieren sich für das Thema Inklusion? Dann schauen Sie sich mal unsere Facebook-Gruppe „Inklusion in GL” an.

Weitere Beiträge in dieser Serie:

Anders sehen, einander verstehen: Mit Wort + Stock

Anders sehen – einander verstehen

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Ich bin in Bergisch Gladbach geboren und lebe bis heute in der Stadt. In der Grundschulzeit bekam ich eine chronische Augenentzündung. Sie verläuft progressiv und so verhielt es sich auch mit meinem Sehvermögen. Seit über 20 Jahren bin ich juristisch blind. Der Blindenlangstock ist nach einer weiteren...

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2 Kommentare

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  1. Es braucht mehr Dialog und gegenseitige Rücksichtnahme, ohne Frage. Das Problem aus Radfahrersicht ist jedoch: Von hinten ist in der Regel nicht zu erkennen, ob eine Person blind oder sehbehindert ist. Und mit dem Klingeln ist es so eine Sache – viele FußgängerInnen erschrecken und springen zur Seite, sobald sie es hören. Das führt nicht zu einer Verringerung, sondern im Gegenteil zu einer drastischen Erhöhung der Unfallgefahr.

    Es ist gut, über das Thema zu reden und so ein Bewusstsein (‚awareness‘) für die Problematik zu schaffen. Einfache Lösungen gibt es dabei nicht, klar ist aber: Je mehr Platz Fußgängern und Radfahrern in der Stadt gegeben wird, je breiter die Rad- und Fußwege, desto seltener kommt es zu brenzligen Situationen und Zusammenstößen. Solange 90 Prozent der Verkehrsflächen dem Autoverkehr vorbehalten sind, ist das natürlich schwierig.

  2. DANKE für den aufklärenden Artikel! Man ist sich als sehender Mensch nicht bewußt, wie man reagieren sollte – nun weiß ich besser Bescheid und werde mich bemühen Ihre Ratschläge umzusetzen.

    Dass Radfahrer immer rücksichtsloser werden (entgegen der Fahrtrichtung, also auf der falschen Seite den Radweg benutzen, nicht klingeln etc.) ist eine Tatsache, die nicht nur Sehbehinderten Probleme bereiten.