Am 6. Mai stellt „Wort & Kunst“ eine neue bergische Anthologie unter dem Titel “Wahn und Sinn” vor. Wir präsentieren ausgewählte Geschichten aus dem Band vorab.
Mehr Informationen zu dem Projekt, siehe auch unten
Manfred Müller
Der letzte Lehrer
Die zahlreichen Absperrungen und Umleitungen mit ihrem Schilderwald versperrten den Blick auf die Ampel auf der gegenüberliegenden Straßenseite, so dass Karagül sich erst in Bewegung setzte, als sie spürte, dass der Menschenstrom um sie herum weiterquoll, wie ein Fischschwarm von unsichtbaren Signalen in die Fließrichtung gedrängt. Das war nun schon seit Jahren so, seitdem an der neuen U-Bahn-Linie gebaut wurde, die die Innenstadt durchschnitt, und von der viele behaupteten, sie sei völlig unnötig, und das ganze Projekt sei nur durch die Verflechtungen mancher Ratsmitglieder mit einigen heimischen Baufirmen zu erklären.
Das war es aber nicht, woran sie in diesem Augenblick dachte, sondern ihr Kopf war angefüllt mit Gedanken an ihre Chefin, die ihr kürzlich angedroht hatte, sie werde ihr kündigen, wenn sie noch einmal zu spät zur Arbeit käme. Dabei hatte es sich doch meistens nur um wenige Minuten gehandelt, wenn sie unterwegs einen Bekannten traf, den sie begrüßen musste, wenn sie nicht seine Sympathie verlieren wollte. Oder wenn sie einen Anruf auf ihrem Handy erhielt, bei dem es sich um eine Terminabsprache handelte. Wenn das während der Arbeitszeit geschehen wäre, womöglich, wenn sie gerade kassierte oder einem Kunden seine Backwaren in die Papiertüte mit dem Firmenlogo steckte, das wäre der Chefin schließlich auch nicht recht gewesen. Auf jeden Fall wollte sie aber dieses Mal ihre Stelle behalten. Denn die erwartete Verbindung mit Ali war ja auch in die Brüche gegangen, und von einer durch Ehe gesicherten Zukunft konnte vorläufig keine Rede sein. Deshalb konnte sie nun auch wieder ungeniert das Kopftuch ablegen und sich so schick kleiden, wie es ihr gefiel.
„Karagül!“, ertönte eine Stimme aus dem Menschenwurm, der sich ihr entgegenwälzte. Nur nicht hinschauen, sonst würde sie wieder aufgehalten und alle Vorsätze wären dahin. Außerdem war es eine alte Stimme, auf die sie sich zunächst keinen Reim machen konnte, bis ihr bewusst wurde, dass sie sie kennen musste.
Unwillkürlich kam ihr ihr Vater in den Sinn, wenn er am Abend versuchte, Licht in das Dunkel ihres Tagesablaufs zu bringen, eines Dunkels, das sie ihm gegenüber sorgfältig zu erhalten strebte. Wenn ihr auch die Sorge, die aus seiner Stimme klang, ans Herz ging und sie das Auftauchen von fröhlichen Kindheitserinnerungen, in denen sie an seiner Hand den Bosporus entlangspazierte, flugs in die Tiefen ihrer Erinnerung zurückstopfte. Wie auch die Gedanken an die Tätigkeit des Vaters in seiner Organisation und den ewigen Geldmangel, den sie mithelfen sollte zu beheben. Natürlich war das hier nicht die Stimme ihres Vaters. Aber irgendeine Ähnlichkeit war da. So dass sie noch auf dem Zebrastreifen ihren Schritt beschleunigte, um die vor ihr Gehenden zu überholen.
Er ließ nicht nach. „Hallo, Karagül!“, rief die Stimme drängender und fast ein wenig empört, weil sie noch nicht reagiert hatte. Wie in einem Zwang musste sie sich nun umdrehen und ihm ins Gesicht schauen. Sie kannte es natürlich, wie sie erwartet hatte, obwohl ihr im Moment kein Name dazu einfiel. Ein hochgewachsener alter Mann, älter noch als ihr Vater, eine kleine Frau neben ihm, bei der man nicht wusste, ob ihre Haare nun hellblond oder grau waren. Wie unter Hypnose folgte sie den beiden zurück zu der Stelle, wo der Zebrastreifen begann. Die Eile, mit der sie nach der Mittagspause ihrer Bäckerei entgegenstrebte, war vergessen.
Als müsste sie diesem Mann Rede und Antwort stehen, wie einem Richter, der seine wissenden Augen auf sie gerichtet hatte.
Bis zu einer gewissen Grenze hatten diese Augen sie früher auch gezwungen, Geständnisse von sich zu geben, Geständnisse von nichtgemachten Hausaufgaben und von unentschuldigtem Fehlen. Das war der Tiefe ihrer Augenhöhlen zu verdanken, die von Verantwortung und Pflicht redeten. Aber da waren noch die beiden anderen Züge, die sie besaßen. Die Güte, die in ihren kleinen Lachfältchen lag, und das strahlende Blau der Iris, das Rechtschaffenheit und Klarheit offenbarte, vielleicht aber auch eine Naivität, die das Dunkel ihrer eigenen Augen nicht durchdringen konnte, nicht durchdringen durfte. Welche Enttäuschung hätte sie ihm bereitet. Welches Bild von ihr selber hätte sie in diesen Augen zerstört!
Wie hätte sie im Deutschunterricht widersprechen können, wenn er in den Texten der großen Dichter seinen Glauben an Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit an seine Schüler weiterzugeben versuchte, wie hätte sie seine Maximen von Sparsamkeit und Klugheit anzweifeln können, wenn er in Wirtschaftslehre zum vernünftigen Umgang mit Geld anleitete!
„Karagül! Ich habe in den letzten Tagen oft an dich gedacht. Ich wollte dich schon anrufen und mich einmal mit dir treffen. Ich habe ja jetzt viel Zeit. Und ich wollte so gerne wissen, warum du damals nicht mehr zur Schule kamst und so keinen Abschluss erhieltest. Wie geht es dir?“
An mich gedacht? Dabei fällt mir immer sein Name noch nicht ein. Obwohl ich, das gebe ich zu, manchmal von ihm geträumt habe. Vor allem, wenn es mir einmal ganz schlecht ging.
„Gut geht es mir.“
„Was machst du denn? Wo arbeitest du? Du bist doch sicher auf dem Weg zu deiner Arbeitsstelle.“
„Hier ganz in der Nähe. In einer Rechtsanwaltskanzlei.“
„Ach, da ist dein Wunsch doch Wirklichkeit geworden. Da gratuliere ich aber. In derselben Kanzlei, wo du damals dein Praktikum gemacht hast?“
„Nein, nein, in einer anderen. Und meinen Abschluss habe ich auch nachgemacht. Sogar Realschulabschluss.“
„Ach, das ist ja toll. Und wo?“
„Bei der Volkshochschule. Und demnächst will ich auch Abitur machen. Und heiraten.“
„Karagül, Karagül! Ich habe es ja immer gewusst, dass etwas in dir steckt. Mehr als du damals gezeigt hast. Aber warum hast du in der letzten Klasse so oft geschwänzt? Jetzt kannst du es mir ja sagen.“
Die Lachfältchen um seine Augen zeigten wieder diese Mischung aus Verschmitztheit und Güte. Aber das klare Blau der Iris. Nie würde er verstehen. Seine drohende Enttäuschung würde verhindern, dass er ihr Glauben schenken würde.
„Ach, ich hatte damals Stress mit meinen Eltern.“
„Mit deinem Vater?“
„Auch mit meiner Mutter. Mit beiden.“
Ihre Augen hatten nun wieder die klare hoffnungsvolle Färbung angenommen wie damals, wenn sie ihm das Blaue vom Himmel vorlog.
Sie wusste, dass ihn genau das daran hinderte, weiter zu fragen. Er würde damit das eigene Gedankenreich zerreißen, das Tuch der Gerechtigkeit, das Tuch, das ihn davor bewahrte, seine pädagogischen Illusionen fahren zu lassen und endlich die ungeschminkte Wirklichkeit seiner Schüler zu sehen.
Hastig verabschiedete sie sich nun von ihm und von seiner kleinen Frau, die noch den Satz „Da sieht man, dass die Intelligenten doch immer noch die Kurve im Leben kriegen“ von sich gab.
Als sie sich umdrehte, überquerte vor ihr eine dieser modernen Straßenbahnzüge den Fußgängerüberweg, die ein schickes Design aufwiesen, das aber wie angeklebt erschien, als würde im nächsten Moment eine Fassade herabfallen, die das hässliche Getriebe und ansonsten ein hohles Nichts bloßlegten, ein Nichts, das aber notwendig war und das Weiterleben der Menschen ermöglichte. So wie heute hatte sie diese Straßenbahnen noch nie gehasst. Und sie sehnte sich wieder zurück nach den alten gemütlichen Bahnen, mit denen sie als Kind mit ihrer Familie durch Istanbul gefahren war, bevor sie eines Tages Hals über Kopf nach Deutschland auswanderten.
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Manfred Müller, geb. 1940 in Leverkusen-Schlebusch, aufgewachsen in Köln und Leverkusen, lebt seit 1982 in Bergisch Gladbach. Lehrer in Leverkusen, Chile, Köln und Mexiko. Ausstellungen von Gemälden und Zeichnungen in Bergisch Gladbach und Odenthal. Schreibt Lyrik und Prosa (Roman und Erzählbände).
Weitere Informationen:
- Was Sie über “Wahn und Sinn” wissen müssen
- Literatical: Bei dieser szenischen Lesung werden die Stücke durch Musik, Stimme und Pantomime verfremdet, sodass eine neue literarische Qualität entsteht. Die Veranstaltung findet statt am 6. Mai, 19.30 Uhr im Bensberger Rathaus, Eintritt frei
- Das Buch (ISBN 978-3-940171-14-6) gibt es im Buchhandel und bei Rass
Lieber Manfred, deine Geschichte habe ich mit Interesse gelesen. Klasse geschrieben, gutes Deutsch – gefällt mir!!! Grüße von Cornelia und Philipp