„Wir sind Faust“ lautete der Titel eines Theaterstückes, das jetzt auf dem Zanders-Areal zu sehen war. Das Wandertheater spielte gekonnt mit Fragen der Verantwortung für das eigene Handeln, Empathie, Verführung, Moral. Und setzte eine drastische, wenn auch rein künstlerische Entscheidung der Zuschauer:innen über Leben und Tod ans Ende der Handlung.

Text: Holger Crump, Fotos: Michael Wittassek

Eine geschickte Bearbeitung des Faust-Stoffs präsentierte die Gruppe LandBlattGold am Wochenende als Open Air-Theater auf dem Zanders-Areal. LandBlattGold – das sind die Schauspieler:innen Heike Bänsch und Kai Mönnich sowie Künstler und Fotograf Michael Wittassek, die in dieser Form ihre erste Produktion realisiert haben.

„Wir sind Faust“ lautete der programmatische Titel des Stücks, bei dem die Zuschauer:innen unversehens zum zentralen Teil des Geschehens wurden. Jeder wurde zum Faust. Oder alle zusammen zu einer Faust-Familie?

Denn gleich zu Beginn mussten sie sich entscheiden, ob sie lieber den Intrigen der Mephista (gespielt von Heike Bänsch) folgen, oder doch auf die Kraft der Liebe des Engels St. Michael (Kai Mönnich) setzen.

Und folgten dann – aufgeteilt in zwei Gruppen – den beiden schwarz beziehungsweise weiß gekleideten Protagonistin auf ihren Spaziergängen über das Zanders-Areal. Die nun in verschiedenen Szenerien listig versuchten, das Publikum – also Faust – auf ihre Seite zu ziehen. Fausts innerer Konflikt, verteilt auf mehrere Köpfe.

„Wir sind Faust“: Die Hochkultur aufs Land bringen, kulturelle Höhepunkte in unmittelbarer Umgebung erleben – das war das Ziel von LandBlattGold. Premiere war im Juni auf Schloss Homburg, Stationen folgten im Freilichtmuseum Lindlar und im Alten Baumwolllager Lindlar.

Idee, Inszenierung, Text, Regie: Heike Bänsch (Mephista), Kai Mönnich (St. Michael), Michael Wittassek (Szenische Gestaltung)
Ensemble: Kristin Kunze, Lea Wagener, Lucas Ewers
Gefördert vom LVR, dem RKP – Regionales Kultur Programm sowie dem NRW-Ministerium für Kultur und Wissenschaft

Leben oder Tod

Zentrales Thema ist das Gretchen aus Goethes Faust. Das Wohl und Weh einer ungewollten Schwangerschaft, wie im Original der Tragödie zu lesen ist. Eine Beziehung, die eigentlich nicht sein darf, mit ungewollten Konsequenzen. Und einer Schuld, die nur bei ihr gesucht wurde.

Zum Schluss des Theaterstücks finden die Gruppen wieder zusammen. Um nach den theatralischen PR-Kampagnen von Mephista und St. Michael den Daumen über das junge Mädchen zu heben oder zu senken: Entweder Seelenheil und Erlösung, moralisch entlassen in die Freiheit. Oder der Tod, in der Inszenierung mit der gebotenen Distanz symbolisiert durch das Drücken eines Buzzers.

Das Leben ein Spiel, der Einsatz das Leben. Internationale Groß-Produktionen wie die „Squid Games“ oder die „Tribute von Panem“ ließen grüßen.

Polarisierte Gesellschaft

Die Tragödie um das schwangere Gretchen, die Parabel auf die Lust am Leben, das Hin und Her um die ungewollte Schangerschaft wird in dem Stück zu einer vielschichtigen Erzählstruktur aufgedröselt.

Mit der Aufteilung des Publikums in zwei Gruppen fanden die Macher von „Wir sind Faust“ einen spannenden Hanldungsaufbau. Ein treffendes Symbol für die Begrenzung des eigenen Horizonts auf die umgebende Blase, den abhanden gekommenen Blick über den Tellerrand, die mangelnde Fähigkeit zum Zuhören, die fehlende Akzeptanz abweichender Meinungen.

Eine polarisierte Gesellschaft, die sich sprichwörtlich im Kreis dreht, denn die beiden Gruppen wanderten gegenläufig über das Zanders-Areal.

Liebe, Moral, Verführung

Symbolträchtig die Inszenierung des Themas Liebe, etwa als Gretchen leichtfüßig um die Ecke einer alten Lagerhalle herbei spaziert. Gewandt in einen weißen Schleier, den ihr Mephista (in der anderen Gruppe) flugs vom Haupte reißt und durch einen schwarzen Schleier ersetzte. Der wird unversehens zu einem dichten Netz aus Intrigen, Moralvorstellungen, in denen sich das junge Mädchen nur verheddern konnte.

Was ist Moral noch wert? Seinen vielleicht intensivsten Moment erlebt das Stück beim Aufeinandertreffen der Mephista-Gruppe mit Gretchens Bruder, einem Soldaten, der sich angesichts der schwangeren Schwester bitter über die verlorene Ehre beklagt.

Wie Mephista hier den ausgestreckten Zeigefinger ihrer Faust-Gruppe zum Dolchstoß herbeischwadroniert und die Massen verführt, belegt die hohe schauspielerische und dichterische Leistung des Stücks. In dem vor allem Mönnich und Bänsch mit ihrer Flexibilität und einer präzisen Führung der Figuren brillieren.

Reiz des Spielorts

„Wir sind Faust“ wurde zuvor bereits an einigen, vermutlich weitaus pittoreskeren Locations aufgeführt (vgl. Kasten). Und hat vor diesen romantischem Hintergründen sicher gut funktioniert. Aber auch die Präsentation auf dem Zanders-Areal hat ihren Reiz.

So gewinnt St. Michaels deklamatorische Würdigung der Natur, die in eine kleine Wanderung mit Volkslied mündet („Mein Vater war ein Wandersmann…“), gerade wegen der morbiden Umgebung auf dem Areal an Substanz. Erobert sich die Natur auf Zanders doch gerade in den Ritzen des Asphalts und in den Spalten zerfallender Mauern ihr Terrain zurück.

Das Zanders-Areal offenbart sich als prächtige Kulisse, die im Dämmerlicht und aufgehendem Mond eine ganz eigentümliche Schönheit offenbart – mit historischer, denkmalgeschützter Industrie-Architektur neben Gerippen leergeräumter Betonbauten.

Und das Gelände bietet damit Stoff für zusätzliche Bezüge. „Zum Golde drängt, am Golde hängt doch alles“ – das Faust-Zitat kommt vor dem Hintergrund der wechselhaften Geschichte von Zanders erst recht schillernd daher.

Wandertheater

Die mobile Inszenierung von „Wir sind Faust“ zieht einiges Potenzial aus den „Wanderungen“ über das Zanders-Areal, auch wenn sich die Passagen aufgrund der Distanzen als etwas langatmig entpuppen und akustisch zuweilen etwas herausfordernd sind.

Das Wandertheater machte eine besondere szenische Gestaltung erforderlich: Da es keine feste Bühne gab, hatte Michael Wittassek die Protagonisten mit leichten Accessoires ausgestattet. Wittassek, der als Künstler das Medium Fotografie vor allem durch skulpturale Arbeiten untersucht, setzt bei den Kostümen auf ge- und verformte Schwarzweiß-Fotos zur Unterstreichung der Charaktere.

Tortenspitzen wandeln sich flugs zu vornehmen Kragen, Blumen ranken sich zu Gretchens Krone, Flügel betonen erhoben oder gestutzt das Wesen der Hauptdarsteller. In der Walpurgisnacht häuft er großformatige Arbeiten an – die Erde tut sich auf, Feuer, Wasser, Luft schaffen einen Vulkan als Mittelpunkt der Rituale. Eine spannende Abwechslung in punkto Kostüm.

Nur ein Todesurteil bei acht Aufführungen

Mit 60 Zuschauer:innen ist das Stück fast schon überbucht und gelangt an die Grenzen des Machbaren. Zum Schluss, als die beiden Gruppen über Gretchens Zukunft richten sollen, endet es wie bei fast jeder Aufführung.

Drei Zuschauer:innen stehen auf und stellen sich schützend vor das Mädchen. St. Michael hat gewonnen. Gretchen bleibt am Leben, so das Ergebnis des gewollt offen angelegten Finales.

Da muss man sich als Zuschauer:in schon trauen, aus der Gruppe herauszutreten, Verantwortung zu übernehmen. Entsprechend blitzt in den Augen von Gretchens Beschützern Stolz ob ihrer Zivilcourage auf. Eine von vielen Interaktionen, welche die Besucher:innen zwangsläufig erfahren.

Gretchen, so berichten die Macher des Stücks, sollte auf Wunsch von Faust – den Zuschauer:innen – nur ein einziges Mal in acht Vorstellungen sterben. St. Michael siegt mit seinem Werben für das Gute offenbar auf ganzer Linie. Oder übertüncht die Zivilisation einfach nur den Drang, Mephista zu folgen? Wer weiß.

„Der Mord war unangenehm“

Das Stück hinterlässt bei den Besucher:innen jedenfalls deutlich Spuren, es gibt im Anschluss lebhafte Diskussionen. „Der Mord war unangenehm“, lässt ein Zuschauer die Szene mit Gretchens Bruder Revue passieren.

Ob das interaktive Stück eine Auflehnung der Teilnehmer:innen wohl zugelassen hätte, lautet eine Frage zum Dolchstoß? „Mit den Konsequenzen müssen wir leben“, fasst eine weitere Zuschauerin zusammen, der angesichts der Verführungen durch Mephista einfach nur mulmig geworden war.

Bedenken angesichts etwaiger Intrigen von St. Michael hatte übrigens niemand. Das Gute – steht es moralisch immer auf der richtigen Seite?

Wenn es nach LandBlattGold geht, soll Mephista übrigens öfter die Gelegenheit haben, die Faust-Familie zu verführen. Interessierte Spielstätten und Veranstalter vorausgesetzt.

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war bis Anfang 2024 Reporter und Kulturkorrespondent des Bürgerportals.

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