Am 6. Mai stellt „Wort & Kunst“ eine neue bergische Anthologie unter dem Titel “Wahn und Sinn” vor. Wir präsentieren ausgewählte Geschichten aus dem Band vorab.
Mehr Informationen zu dem Projekt, siehe auch unten

Karl Feldkamp

Der Artistiker

Als ich Ewald besuchen wollte, sagte mir die Stationsschwester, er habe das Krankenhaus entgegen der ärztlichen Anordnung auf eigenen Wunsch verlassen.

Sofort fuhr ich mit meinem Auto zum Schillerpark.

Dort beobachtete ich ihn öfter bei seinen Balanceakten.

Wie an fast allen Sommerabenden saßen Lorbachs, ein altes Paar mit Rauhaardackel, auf der Parkbank unter der Blutbuche. Auch sie hatten Ewald seit Tagen nicht mehr  gesehen. Der alte Lorbach strich sich die grauen Haare aus dem Gesicht, rückte seine Hornbrille zurecht und streichelte über das struppige Fell seines Hundes.

„Ein Auto soll ihn angefahren haben, als er vom Geländer auf die Straße stolperte. Meinhard hat es uns erzählt. Sie wissen, dass der dahinten am Kriegerdenkmal immer bettelt. Nunja, Ewald wollte immer unberechenbar sein wie das Leben. Wird seine Gründe dafür gehabt haben.“

Frau Lorbach streichelte ihrem Alten die Hand und nickte lächelnd. „Männer brauchen riskante Abenteuer.“

Karl Feldkamp

Ewald balancierte an einem ziemlich heißen Sommernachmittag im letzten Jahr neben mir auf dem niedrigen Eisengeländer, das die Rasenflächen des Schillerparks einfasst. Er unterbrach seinen leisen Singsang, der nach Trauermarsch klang. Die Worte, die er sang, gehörten zu einer fremden Sprache, die vermutlich nur er verstand. „Musik lässt dich Balance halten.“ Er lachte, begann zu singen,  um mit den Armen rudernd weiter zu balancieren, einmal um das Rasenstück herum, bis er nach Luft schnappend, erneut vor mir stand und sich seine langen, angegrauten Haare über die schmalen Schultern warf.

„Ohne Musik läge ich längst im Abgrund.“

Mit seinem mageren, langen Zeigefinger wies er auf den Rasen neben dem Geländer.

„Gibt auch Untiefen in den Abgründen. Bin zur See gefahren. Untiefen sind gefährlich. Nichts ist schlimmer, als mit tiefem Fall zu rechnen und sofort aufzuschlagen.“

Er lachte, konnte sich nicht auf dem Geländer halten, fiel, stolperte und fing sich.

„Das Leben ist nicht wirklich lustig! Aber man kann wenigstens so tun.“

Achselzuckend stieg er wieder auf das niedrige Eisengeländer.

Artistiker sei er, einer, der Gleichgewicht suche, erklärte er und setzte sich nach einer weiteren Balancerunde zu mir auf die Parkbank. Im Gleichgewicht zu leben, sei das Wichtigste.  Er holte Luft, stand auf, stieg wieder auf das Geländer, balancierte ein paar Schritte und versuchte auf dem Geländer stehen zu bleiben.

„Wenn man weitergeht, kann man das Gleichgewicht besser halten. Gehen Sie doch bitte ein paar Schritte mit.“

Widerwillig stand ich von der Bank auf und ging neben ihm her.  Er fiel in seinen Singsang und stützte sich zwischendurch mit seiner Hand auf meiner Schulter  ab. Plötzlich unterbrach er seinen Trauergesang, legte mir beide Hände auf die Schulter, drehte mich zu sich um und sah mir in die Augen.

„Mit einem Begleiter kann man das Gleichgewicht besser halten als mit Musik.“

Dann stieß er mich zurück und ging, ohne sich einmal umzusehen, quer über die Rasenfläche und die viel befahrene Straße in eine enge Gasse. Autofahrer bremsten quietschend, hupten, drohten mit der Faust.

Ewald ließ sich nicht aufhalten.

Am nächsten Sonntag machte ich nach dem Mittagessen meinen gewohnten Verdauungsspaziergang. Als ich mich auf die Bank setzte,  balancierte Ewald hinter mir.

Ich blickte mich um, er ruderte mit den Armen, sprang vom Geländer, ging um die Bank herum, blieb wütend vor mir stehen.

„Sie bringen mich aus dem Gleichgewicht. Ich kann nicht gleichzeitig singen und mit Ihnen reden!“

„Tut mir leid. Aber ich kann nicht mitsingen. Ich kenne weder Text noch Melodie.“

„Ist ein Gute-Nacht-Lied in Kindersprache.“

Mit dem Handrücken wischte er sich schnell über die Augen und lächelte.

„Geben Sie sich keine Mühe, Erwachsene können die Sprache nicht verstehen.“

Langsam ging er zum Geländer zurück und versuchte, ohne zu singen, das Gleichgewicht zu halten.

„Sehn Sie, es geht nicht.“

Als ich den Park verließ, mühte er sich immer noch.

Nach dem Gespräch mit Lorbachs fuhr ich noch einmal ins Krankenhaus. Die Stationsschwester begleitet mich zum Krankenzimmer.

„Hier, der Herr Naujoks hat mit ihm fast eine Woche das Zimmer geteilt.“

Der ältere Herr gab mir lächelnd die Hand.

„Morgen werde ich entlassen.“

Ob er denn wüsste, wohin Ewald gegangen sein könnte. Herr Naujoks schüttelte den Kopf.

„Nicht ein Wort hat der mit mir geredet. Nicht eines. Nur beim Einschlafen sang er immer leise ein Lied. Aber das kannte ich nicht.“

Weitere Informationen:

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1943 in Lübeck geboren, wohnte lange in Frankenforst, lebt inzwischen in Wallefeld. Er arbeitet als selbständiger Supervisor und freier Autor, schreibt Gedichte, Geschichten, Kolumnen, Sachbeiträge, Rezensionen.

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