Seit dieser Woche liegen in allen Kommunen Unterschriftenlisten gegen das Turbo-Abitur aus. Mit dem ersten Volksbegehren in NRW seit 39 Jahren will die Elterninitiative „G9 jetzt NRW“ mehr als eine Millionen Bürger bewegen, zu einer Frage Stellung zu beziehen, die Politiker wie Bürger spaltet: Wie lange sollen Gymnasiasten bis zum Abitur lernen dürfen?
Text: Miriam Bunjes, Correctiv
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Zusammen wiegt das Papier 810 Kilogramm – und machte schon Monate vor dem Drucktermin schweren Druck auf die nordrhein-westfälische Schulpolitik. „Abitur nach 13 Jahren: Mehr Zeit für gute Bildung“ steht über den Unterschriftenbögen, die jetzt in Rathäusern und Bürgerbüros aller Kommunen in NRW liegen. Zur „Amtseintragung“ wie es im Behördendeutsch heißt.
Jeder Wahlberechtigte kann ab sofort und bis zum 7. Juni mit Personalausweis und Unterschrift einem Volksbegehren zum Erfolg verhelfen, das die größte Reform des Bildungssystems rückgängig machen will: G8 – die verkürzte Zeit zum Abitur am Gymnasium.
Und das auch kann, wenn acht Prozent des Wahlvolks in NRW wirklich für das neunjährige Gymnasium unterschreibt – genau 1.060.963 Personen. Lehnt das Landesparlament dann ab, müsste es selbst einen Volksentscheid zum Thema auf den Weg bringen – und das Ergebnis akzeptieren und übernehmen.
Schulpolitik – gemacht im Keller
Für die 810 Kilogramm an Unterschriftenbögen hatte der Siegener Studienrat Marcus Hohenstein seinen Samstag in einem Gummersbacher Keller verbracht und mit ein paar Mitstreitern aus der Elterninitiative „G9 Jetzt! NRW“ 65.000 solcher Papierbögen in 396 Pakete gepackt.
Schulkampfstoff. Und Post für 396 nordrhein-westfälische Städte und Gemeinde. Das Volksbegehren ist Schulpolitik. Gemacht im Keller, in Wohnzimmern und auch in Garagen. Von Eltern, die wie Marcus Hohenstein kein G8 mehr für ihre Kinder und die Kinder künftiger Eltern am Gymnasium wollen.
Dafür hatten die Eltern im April 2015 mit 112.355 genügend Unterschriften für eine Volksinitiative gesammelt. Der Landtag musste sich mit ihren Forderungen beschäftigten, lehnte eine Rückkehr zu G9 aber ab.
Hinweis der Redaktion: Die Autorin arbeitet für das gemeinnützige Recherchezentrum correctiv.ruhr, mit dem das Bürgerportal kooperiert. Correctiv finanziert sich ausschließlich über Spenden und Mitgliedsbeiträge. Wenn Sie correctiv.ruhr unterstützen möchten, werden Sie Fördermitglied. Weitere Informationen finden Sie auf correctiv.ruhr
„Ich gebe nicht auf“, schwor sich sich damals Marcus Hohenstein, Lehrer für Physik und evangelische Religion. „Wir kommen wieder“, sagte er Mitstreitern, Politikern und Journalisten noch auf den Treppen des Düsseldorfer Landtags. „Das Thema lässt mich nicht mehr los. Es ist so unübersehbar falsch, was mit den Kindern am Gymnasium gemacht wird.“
Zurück zu G9
Die Forderungen der Elterninitiative entsprechen den Regelungen des alten neunjährigen Weges zum Abitur am Gymnasium. Was die Bürger per Volksbegehren erzwingen wollen: eine Sekundarstufe 1 von der 5. bis zur 10. Klasse, nach der die Schüler dann einen mittleren Schulabschluss haben. Die zweite Fremdsprache ab Klasse 7. Und danach eine dreijährige Oberstufe. Maximal 180 so genannte Jahreswochenstunden sollen die Schüler in der Sek 1 haben dürfen, 90 in der Oberstufe.
An diesen Stunden und ihrer Verteilung auf die Schuljahre hängt viel des G8-Streites, der überall in der Bundesrepublik geführt wird. In ihm geht es um Druck auf die Kinder, psychische Belastung, fehlende Freizeit, veränderte Kindheit und das deutsche Bildungsniveau – große Werte also mit entsprechend großem Empörungspotenzial.
80 Prozent der Eltern gegen das Turbo-Abi
Schwarz-gelb hatte G8 eingeführt, so überhastet, dass es am Anfang nicht einmal Schulbücher für alle gab. Rot-grün hat Teile abgeändert, es aber weitergeführt. Schulen haben andere Lehrpläne, Schulbücher, Abläufe – ein G9-Volksbegehren im Wahljahr ist daher mehr als unbequem. 80 Prozent der Gymnasialeltern in NRW lehnen laut Studien des Bielefelder Bildungsforscher Rainer Dollase G8 ab.
Aber auch Schüler, Lehrer und außerschulische Lehrkräfte waren in der NRW-Umfragen für die Landeselternschaft eindeutig und deutlich gegen das Turbo-Abi.
Den Rücklauf auf die Umfragen beschrieben die Forscher ebenfalls als „ungewöhnlich groß“ und folgern entsprechend viel „Mobilisierungspotenzial“. Das Thema bewegt – vielleicht sogar eine Millionen Wähler. Klar und ausschließlich für G8 ist deshalb keine Partei mehr: zu unpopulär.
Wie viel Zeit dürfen Gymnasiasten zum Abitur brauchen?
Gymnasiasten müssen 265 Jahreswochenstunden absolvieren, das ist bundesweit festgelegt. Durchschnittlich 33,1 Schulstunden pro Woche haben damit Schüler beim achtjährigen Weg zum Abitur. 29,4 waren es im G9. In der Regel sechs Unterrichtsstunden am Tag, Schulschluss um 13.20 Uhr.
Manchmal kommt in den höheren Klassen eine siebte Stunde hinzu, die aber mit der G8-Reform 2005 verboten wurde. Stattdessen gibt es nach einer Zeitstunde Pause Nachmittagsunterricht. „Zwang zum Ganztag“, nennt das Hohenstein. Und setzt sich ein für „ein Recht auf Halbtagsschule“.
Für die Fünft- und Sechstklässler gibt es wegen der Kritik von Eltern, die es seit der Einführung von G8 durch die schwarz-gelbe Landesregierung 2005 gab, inzwischen im nachgebesserten G8 nur noch an einem Tag pro Woche Nachmittagsunterricht.
Danach sind es zwei Nachmittage. Aber auch in der immer noch dreijährigen Oberstufe wird insgesamt mehr unterrichtet, um weiter auf 265 Jahreswochenstunden zu kommen.
Auswirkungen auf die Freizeit
Über die Auswirkungen von G8 auf Schüler gibt es unterschiedliche und widersprüchliche Studien, die im Streit um G8 von allen Seiten zum Einsatz kommen. So sieht eine Studie der Universität Tübingen, die G8- und G9-Jahrgänge in Baden-Württemberg vergleicht, kaum Unterschiede bei der Freizeitgestaltung der Gymnasiasten. Sie würden genauso viele Vereinsangebote wahrnehmen oder Musikinstrumente lernen. Nur würden sie seltener Freunde treffen und seltener fernsehen.
Auf diese Studie beruft sich auch NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) im Interview mit Correctiv.Ruhr.
Zudem habe man einvernehmlich mit einem Runden Tisch, an dem auch Vertreter von außerschulischen Bildungsangeboten saßen, Entlastungsmöglichkeiten vereinbart – zum Beispiel, dass Schüler einfacher freigestellt werden können, wenn sie an einem Wettbewerb teilnehmen und dies zudem auf Zeugnissen anerkannt wird.
Die Noten
Die Abiturdurchschnittsnoten der Schüler haben sich durch G8 in NRW nicht verschlechtert. 2016 lagen sie bei 2,45. Seit 15 Jahren steigen sie mit minimalen Abweichungen: 2002 lagen sie bei 2,68 – zeigen die Daten des nordrhein-westfälischen Schulministeriums. 2013 gab es einmalig einen doppelten Abiturjahrgang mit den ersten G8-Abiturienten: Sie erreichten zusammen ebenfalls 2,45. Die G8er waren sogar minimal besser.
Der Stress
Ein schwieriges Thema. Die G8er zeigen in vielen Studien mehr körperliche Stresssymptome als ihre Vorgänger, andere Studien belegen dies wieder. Es gibt Studien, die einen Anstieg der Nachhilfestunden bei G8-Schülern erfassen. Einige zeigen höhere Stresswerte. Einige Studien wieder bessere Leistungen von G8-Schülern in einzelnen Fächer und eine gleiche Studierfähigkeit – was Vertreter der Hochschulverbände in vielen Presseinterviews anders einschätzen. Diese Einschätzung wird wiederum durch die Zahl von Vorbereitungskursen für Abiturienten an Universitäten untermauert.
Das deutsche Institut für Wirtschaftsforschung DIW kommt in einer Übersichtsstudie zum Ergebnis, dass es kaum verlässliche empirische Befunde gibt, weil auch noch andere Veränderungen im Bildungssystem auf Schüler einwirken.
Das Gleiche nur schneller
Die Idee von G8 ist auch gleichzeitig die Kritik der Elterninitiative: G8 ist das Gleiche nur in einem Jahr weniger – damit die deutschen Gymnasiasten international wettbewerbsfähig bleiben, nicht weiterhin ein Jahr älter sind als die meisten Schüler in anderen Ländern, früher studieren, früher ins Berufsleben eintreten können. „Von Anfang an keine pädagogische Idee“, sagt Hohenstein. „Der Preis ist Stress für die Kinder, eine verdichtete Kindheit, eine schlechtere Bildung.“
Tatsächlich? 810kg ? .. das wären ca 150.000 A4-Seiten. Da hat sich aber einer lange mit beschäftigt…
Ich möchte Ihnen sagen. Eine gute Initiative und ich werde ins Bürgerbüro gehen undddas unterstützen