In der Pandemie ist oft die Rede von Home Office, von Ausgangssperre. „Bleiben Sie zuhause“ so der Rat, um sich vor Corona zu schützen. Für einige Menschen in der Stadt klingt das wie Hohn. Sie haben kein Zuhause, schlafen auf der Straße oder sind akut von Wohnungsnot betroffen. Das ist auch ohne Pandemie schon dramatisch und bedrohlich, wie ein Gespräch mit Judith Becker vom Netzwerk Wohnungsnot RheinBerg zeigt.

Das Büro von Netzwerk Wohnungsnot RheinBerg befindet sich in der Stadt, unmittelbar an der Hauptstraße. Dennoch ist es nicht einfach zu erkennen. Nur ein kleines Schild weist darauf hin, dass sich hier die Beratung für Wohnungsnot befindet – und das aus gutem Grund.

Judith Becker, Leiterin Netzwerk Wohnungsnot RheinBerg: „Wohnungsnot hat unterschiedliche Ausprägungen“

„Wohnungsnot oder Wohnungslosigkeit. Das ist sehr oft schambesetzt, obwohl die Betroffenen in vielen Fällen kaum etwas für ihre Situation können. Wenn sie uns aufsuchen, wollen wir sie nicht zusätzlich dadurch belasten, dass Dritte sehen wohin es die Betroffenen führt. Daher ist unsere Außendarstellung eher unauffällig“, erklärt Judith Becker.

Die Sozialarbeiterin leitet das Netzwerk Wohnungsnot RheinBerg. Ein gemeinsames Angebot von Diakonie und Caritas.

Stigmatisierung, das ist eines von vielen Problemen beim Thema Wohnungsnot. Doch was ist konkret unter Wohnungsnot zu verstehen?

Parkbank, Couch, Notunterkunft, Straße

„Dies hat unterschiedliche Ausprägungen“, meint Judith Becker. Es gebe die Menschen, die auf der Straße leben, „auch in Bergisch Gladbach.“ Hinzu kämen jene, die ohne eigene Wohnung permanent bei Freunden oder Bekannten übernachten. Damit sind die so genannten Couch-Surfer gemeint.

Die dritte große Gruppe bilden die Menschen, die nach Verlust der eigenen Wohnung in einer kommunalen Notunterkunft leben. Die Kommune habe eine Verpflichtung, Menschen eine Unterkunft zu bieten, macht Becker deutlich. Bei der Stadt sei das Thema im Sozialamt angesiedelt.

„Ich will nicht zynisch klingen, aber bei Obdachlosigkeit geht es auch um das Thema Kosten. Eine Stadt oder ein Kreis sollte ein hohes Interesse daran haben, Obdachlosigkeit zu vermeiden“, sagt die Sozialarbeiterin.

Denn Obdachlosigkeit sei teuer. Sie führe unter anderem zu Arbeitslosigkeit, damit zur Zahlung von Transferleistungen. „Daher versuchen wir schon bei drohendem Wohnungsverlust zu helfen, damit erst gar keine Wohnungslosigkeit entsteht“, so Becker. Die Zusammenarbeit mit Stadt und Kreis sei sehr gut.

Breit gefächerte Hilfsangebote

Um Betroffenen zu helfen, setzt das Netzwerk Wohnungsnot auf kreisweite Fachberatungsstellen, unterstützt Menschen durch Sozialarbeiter und eine Krankenschwester auf der Straße oder durch Arbeitsprojekte wie das Radwerk in Bergisch Gladbach. Menschen, die in kommunalen Obdächern leben, mit neuem Wohnraum zu versorgen, bildet einen weiteren Schwerpunkt.

Ein Beratungsmobil sorgt zudem vor Ort für einen niedrigschwelligen Zugang zum Angebot. „Das Beratungsmobil setzen wir zum Beispiel vor Jobcenterstandorten ein. Die Jobcenter sind nicht zuletzt für die Übernahme von Mietkosten zuständig. Wenn Probleme mit der Wohnung entstehen, ist der Weg für Betroffene damit deutlich kürzer. Unsere Präsenz vor Ort führt dazu, dass die Beratung aufgesucht wird bevor sich die Lage verschärft“, erläutert Judith Becker das Konzept der kurzen Wege.

Wohnungsnot im Rheinisch-Bergischen Kreis ist vielleicht nicht direkt sichtbar, aber dennoch ein drängendes Problem. Dies lässt sich nicht zuletzt daran ablesen, dass der Rheinisch-Bergische Kreis zu den 20 am meisten von Wohnungsnot betroffenen Regionen in NRW gehört.

Und daher wurde der Kreis 2019 im Rahmen der Landes-Initiative „Endlich ein ZUHAUSE“ gleich mit vier Projekten gefördert. Hierzu gehört zum Beispiel die „präventive Wohnraumsicherung“: Sozialarbeiter und Immobilienfachkräfte würden dabei zusammen versuchen, gemeinsam mit Mietern und Vermietern den Verlust einer Wohnung zu verhindern.

Die Bildmotive des Beitrags inklusive des Aufmacherfotos stammen aus dem Foto- und Kalenderprojekt „Zuhause“ von Diakonie und Caritas RheinBerg: Von Wohnungsnot bedrohte und wohnungslose Menschen im Rheinisch-Bergischen Kreis fotografieren ihr „Zuhause“

Ursachen der Wohnungsnot

„Wir liegen auf der Rheinschiene zwischen Bonn und Düsseldorf“, meint Becker, „Wohnraum ist teuer, günstiger Wohnraum knapp. Und es fallen mehr Wohnungen aus der sozialen Bindung heraus als neue Wohnungen nachrücken.“ Damit entstehe Konkurrenz bei den Betroffenen.

Aber auch die persönliche Situation entscheide darüber, ob man eine Wohnung erhalte oder nicht. „Wer arbeitslos ist oder einen Schufa-Eintrag hat wird ohne Hilfe nur schwer eine Wohnung finden“, zeichnet Judith Becker ein unschönes aber leider realistisches Bild.

Menschen, die von Wohnungsnot betroffen seien, würden oft multiple Problemlagen aufweisen. Neben Sorgen mit der Wohnung befänden sich oft auch die Gesundheit, die Finanzen, das Arbeitsverhältnis und die soziale Teilhabe in Schieflage.

Dies könne sich bei Trennung, Tod des Partners o.ä. rasch zu einem Teufelskreislauf entwickeln. „Wer dann sozial nicht integriert ist, findet kaum ein offenes Ohr, Hilfe bei Fragen, den Austausch unter Freunden. Es entwickelt sich eine Abwärtsspirale, am Ende kann es schnell gehen mit der Wohnungslosigkeit“, sagt Becker.

Menschen seien dann mutlos, Probleme würden als unlösbar erscheinen, gibt sie einen Einblick in die Welt der Betroffenen. Man müsse dann zunächst eine Beziehung aufbauen, in Ruhe schauen wie sich die Fragestellungen in kleinen Schritten lösen lassen.

Ganzheitliche Lösung anstreben

Wichtig ist: „Es gilt alles in den Blick zu nehmen, die Lage der Betroffenen muss ganzheitlich angegangen werden.“ Wenn eine Wohnung bereitgestellt werde, die Auslöser jedoch nicht angegangen würden, wiederhole sich oft die Wohnungslosigkeit.

Becker spricht hier von einem Drehtür-Effekt – rein in die Wohnung und wieder raus. „Das macht deutlich, dass die Unterstützung mitunter Jahre in Anspruch nehmen kann“, zeigt die Sozialarbeiterin auf.

Wie lässt sich dann überhaupt der Erfolg der Maßnahmen messen? In 2020 konnte im Rahmen des Präventionsprojektes bei 45 Haushalten die drohende Wohnungslosigkeit abgewendet werden, heißt es dazu im aktuellen Jahresbericht des Netzwerk Wohnungsnot RheinBerg. 45 Haushalte bedeutet 107 Menschen, und davon 46 minderjährige Kinder. 107 mal wurde Geborgenheit, Sicherheit sowie Privatheit vor dem Verlust geschützt.

28 Menschen, darunter zwei minderjährige Kinder, wechselten zudem aus einem kommunalen Obdach in eine neue Wohnung. „Dies sind Zahlen, die wichtig sind, hinter jeder Zahl steht ein Schicksal. Für uns in der Sozialarbeit ist es indes auch ein Erfolg, wenn ein erkrankter Betroffener nochmals den Arzt aufsucht, seine Leistungsansprüche geltend macht oder nach langer Zeit nochmals Kontakt zu seiner Familie und seinen Kindern aufnimmt.“

Erfolg habe nun einmal viele Gesichter im Netzwerk Wohnungsnot, meint Becker. Auch kleine Schritte wären für sie und ihr Team wichtig, ließen sich aber nicht immer messbar ausweisen oder in Geld aufrechnen.

Problem urbaner Räume

Ist Wohnungsnot oder Obdachlosigkeit ein Problem, dass eher in Ballungsräumen angesiedelt ist? „Wohnungsnot gibt es in Großstädten und auf dem Land. In Großstädten ist Wohnungslosigkeit oftmals jedoch ein offensichtlicheres Thema“, erklärt Judith Becker.

Ja, obwohl Wohnraum in der Stadt teurer und knapper sei, versuchten sich viele Menschen in Wohnungsnot im urbanen Raum mit Wohnraum zu versorgen. Das habe mehrere Gründe: Nur im Ballungsraum gäbe es umfänglichen öffentlichen Personennahverkehr. Betroffene seien darauf angewiesen, da sie aus finanziellen Gründen oftmals kein Auto unterhalten könnten.

Zudem gebe es in Städten meist ein umfänglicheres und ausdifferenzierteres Hilfeangebot und mehr versorgende Angebote wie Suppenküchen, Tafeln, Kleiderkammern als im ländlichen Raum.

Die Stadt ermögliche es zudem, unsichtbar zu werden. „In Odenthal auf der Parkbank zu schlafen ist an Peinlichkeit kaum zu überbieten. In einer Stadt tun sich Betroffene damit leichter, Plätze im öffentlichen Raum für ihr Leben zu nutzen“, spricht Judith Becker die Stigmatisierung an.

Bezahlbarer Wohnraum benötigt

Die Sozialarbeiterin ist seit 27 Jahren in der Beratung bei Wohnungsnot aktiv. Wünsche hat sie aber immer noch, und die Antwort auf die entsprechende Frage ist kurz und knapp: „Das Problem ist bezahlbarer Wohnraum.“

Zudem gebe es Klienten, für die sie gerne noch speziellere Angebote einrichten würde. Hier denkt sie vor allem an die obdachlosen Couch-Surfer, die ihre Rechtsansprüche nicht geltend machen würden. Eine Unterstützung über die reine Fachberatung hinaus sei wichtig.

Die Stadtgesellschaft erlebe sie als sehr empathisch. Immer wieder würden sie Hinweise über Menschen erreichen, die in ihrem Auto lebten. „Können sie da mal schauen“ wäre oft der Einstieg für Hilfsangebote, die Betroffene ansonsten nicht erreicht hätten. Auch in der Pandemie hätten Ehrenamtler gespendet, zum Beispiel unzählige Stoffmasken.

Corona verschärft Probleme

„Corona hat die wirtschaftliche Situation vieler Menschen sowie deren Lage dramatisch verschlechtert, auch wenn sie selbst sparsam gelebt haben“, schildert sie ihre Erfahrungen aus der Pandemie. „Wir gehen davon aus, dass die Wohnungsnot noch weiter zunehmen wird“, so ihre Prognose. Die Hinweise aus den Präventionsprojekten sowie der Fachberatung seien eindeutig.

Für Betroffene seien die Pandemie-Regeln schwer einzuhalten: Wie soll man zuhause bleiben, sich nicht in der Öffentlichkeit aufhalten, wenn man kein Zuhause hat, das Bett aus einer Couch bei einem Freund besteht, oder einem Zimmer in einer kommunalen Notunterkunft. Und dies in Gemeinschaft mit Menschen, die man sich nicht ausgesucht hat?

Immerhin: Die Stadt betreibt neuerdings ein mobiles Corona-Testzentrum, um kostenlose Schnelltests anzubieten, auch bei den kommunalen Unterkünften. Die Kommune hat die Betroffenen auf dem Schirm, geht aktiv dahin wo sie die Klientel trifft.

Von Wohnungsnot Betroffene gehören darüber hinaus zur zweiten Prioritäts-Gruppe bei den Impflingen. Sie stehen also demnächst zur Impfung an, eine entsprechende Anordnung des Landes steht noch aus. Der Kreis wolle mit Betreuungseinrichtungen zusammenarbeiten, um die Menschen ohne eigene Anschrift entsprechend zu erreichen, heißt es.

Judith Becker sagt, sie ziehe den Hut vor den Betroffenen, das Leben sei nicht immer gerecht. „Es nötigt mir größten Respekt ab, wie Menschen in Wohnungsnot versuchen ihr Leben dennoch zu meistern! Es ist wichtig, dass die Gesellschaft dies wertschätzt.“

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ist Reporter und Kulturkorrespondent des Bürgerportals.

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2 Kommentare

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  1. Der Wohnungsmangel in unserer Stadt zeigt nur eines an, ein Bedarf wird nicht gedeckt. Hier ist die Politik und in erster Linie auch die Verwaltung gefordert. Wohnen ist ein Grundrecht, wenn auch nicht geschrieben. Es kann nicht sein, dass Wohnende bestimmen wer zu ziehen darf. Das ist aber leider so in unserer Stadt und davon profitieren die Grünen. Natürlich ist jeder Bürger daran interessiert bei der Planung seiner Umgebung mitzuwirken aber allein die verbaute Aussicht kann und darf kein Grund für Wohnungsbauverhinderung sein. Hier müssen andere politische Maßstäbe geschaffen werden. Hoffentlich bald.

  2. Die aktuelle Wohnungsnot ist in allen Gesellschaftsschichten ein eklatantes Problem, das leider eher verschwiegen wird.
    Es fehlt sowohl an Wohnraum im Allgemeinen als auch an bezahlbaren Immobilien.
    Kein Wunder, wenn mehr Menschen in kurzer Zeit zuziehen und auf den bestehenden Wohnungsmarkt verteilt werden, als das Häuser und Wohnungen gebaut werden.