Antje Voss ist Konrektorin der Gemeinschaftsgrundschule Hand. Sie hat uns erzählt, was dort alles getan wird, um die Lesefähigkeiten der Kinder zu fördern – und Defizite aufzufangen. Denn auch dort zeigt sich, dass die Lesekompetenzen über die Pandemie-Zeit weiter abgenommen haben. Und zwar vor allem bei den Kindern, die schon vorher benachteiligt waren. Das versucht die Schule, mit so vielen Mitteln wie möglich auszugleichen.
Ein Viertel der Schüler:innen der vierten Klassen kann nicht richtig lesen. Dieses erschreckende Ergebnis erbrachte die jüngste Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung, kurz Iglu, die am 16. Mai veröffentlicht wurde.
Antje Voss, Konrektorin der Gemeinschaftsgrundschule (GGS) Hand, kennt das Problem. Sie kennt aber auch zahlreiche Lösungsansätze. An ihrer Schule wird nämlich viel dafür getan, die Lesefähigkeiten der Kinder zu fördern und Defizite aufzufangen.
So läuft der Leseunterricht

Voss selbst unterrichtet eine vierte Klasse in Deutsch. Von sieben Wochenstunden ist eine Stunde feste Lesezeit. In dieser Schulstunde spricht die Klasse mal über gemeinsame oder selbst gewählte Lektüre, mal gibt es eine freie Lesezeit, mal werden verschiedene Lesemethoden angewendet.
Eine Methode ist das Lesetandem. Die Kinder werden in Zweier-Teams aufgeteilt, eines ist Sportler:in, das andere Trainer:in. Das Trainer-Kind sollte mindestens gleich gut oder besser lesen. Während das Sportler-Kind vorliest, fährt das Trainer-Kind mit dem Finger unter dem Text mit.
Verliest sich der/die Sporler:in, muss er oder sie zurück an den Anfang des Satzes. Der gleiche Text wird viermal gelesen, nach jeder Runde gibt bekommt das Sportler-Kind eine Rückmeldung vom Trainer-Kind. So erlebt es, wie es sich nach vier Runden im Lesen verbessert.
Antje Voss: „Für Kinder, gerade für leseschwächere Kinder, ist die Hürde erstmal riesig, ein ganzes Buch zu lesen. Beim Lesetandem merken sie aber: Wenn ich oft und viel lese, lese ich besser. Das ist unheimlich gut.“
Ich glaube, was guten Leseunterricht ausmacht, hat vor allem mit Motivation zu tun.
Antje Voss, Konrektorin GGS HAnd
Lautleseverfahren und besonders Lesetandems sind in Deutschland erst seit einigen Jahren verbreitet; in der angloamerikanischen Leseforschung wird ihre Wirksamkeit für die Förderung der Leseflüssigkeit schon seit Jahrzehnten immer wieder nachgewiesen. (Quelle: Handreichung Durchgängige Leseförderung)
Lesegenauigkeit und -tempo beschreibt Voss als die wichtigsten zu erlernenden Fähigkeiten im Leseunterricht. Das flüssige Lesen ist eine grundlegende Voraussetzung dafür, Texte zu verstehen. Aber: „Ich glaube, was guten Leseunterricht ausmacht, hat vor allem mit Motivation zu tun.“ Motivation entstehe bereits in der ersten Klasse beim Vorlesen – nicht erst, wenn man selbst flüssig lesen könne.
Lesestrategien helfen, einen Text zu verstehen
In den höheren Klassen versuchen Voss und ihre Kolleg:innen die Motivation zusammen mit dem Lesevermögen zu steigern. Und zwar bei jeder Lektüre. Zum Beispiel auch dadurch, dass die Kinder Lesestrategien kennenlernen. Angefangen bei der Einteilung in vor dem Lesen – während des Lesens – nach dem Lesen.
Vor dem Lesen schaut sich Voss mit den Kindern erst einmal die Bilder und die Überschrift an, lässt sie Vermutungen anstellen: Worum könnte es gehen? Was fällt dir zu dem Thema ein? So holt sie die Schüler:innen da ab, wo sie stehen, weckt ihre Neugier auf den Text.
Bei einem ersten Lesen des Klappentexts oder der ersten Absätze wird geschaut, welche Wörter vielleicht noch unbekannt sind, was vorab geklärt werden muss, damit die Kinder sich nicht im Text verlieren.
In einer zweite Leserunde fangen die Kinder an, den Text in Sinnabschnitte zu unterteilen, Schlüsselwörter zu markieren – alles, was dabei hilft, einen fremden Text zu erschließen.
Wenn sie dann richtig in die Lektüre einsteigen, geht es darum, „produktiv mit dem Leseprodukt umzugehen“, sagt Voss. Sie sollen sich mit allen Sinnen mit dem Buch auseinandersetzen und in die Geschichte abtauchen.
Danach diskutiert man gemeinsam über das Gelesene.
Spannender Stoff zum Welttag des Buches
Gerade liest Antje Voss mit ihrer Klasse „Volle Fahrt ins Abenteuer“ von Katharina Reschke – ein Geschenk für eine Million Schüler:innen im Rahmen des Welttags des Buches. Dazu gibt es von der Stiftung Lesen vorbereitete Aufgabenblätter, die die Kinder selbstständig bearbeiten, QR-Codes, über die man per Learning-App Rätsel lösen kann, und im Anschluss einen Wettbewerb, bei dem es ein Geocaching zu gewinnen gibt.
„Das ist alles total motivierend“, sagt Voss, „ein Buch, das für die Kinder spannend ist, anschließende Aufgaben, der Wettbewerb.“
Einer der Gründe, warum die Lesekompetenz der deutschen Schüler:innen so stark abnimmt, ist laut Deutschlandfunk der veraltete Lehrstoff. Dagegen helfen Aktionen wie der Welttag des Buches. Und auch die Möglichkeit, selbst Bücher auszuwählen.
Das dürfen die Kinder in Antje Voss‘ Klasse einmal die Woche in einer zweiten Lesestunde: der Büchereizeit. Die Viertklässler:innen gehen dann in die Schulbücherei und suchen sich frei aus, worauf sie Lust haben.
Ab und zu werden die Bücher den anderen Kindern in einer kleinen Präsentation vorgestellt. Entweder vor der ganzen Klasse oder gruppenweise, je nach Interesse. Auch das steigert die Lesemotivation.



Noch weniger Bildungsgerechtigkeit durch Corona
„Unser Ziel ist es, alle Kinder dahin zu bringen, dass sie gerne lesen“, sagt Voss. De facto seien manche Kinder begeisterter als andere. Diejenigen, bei denen zu Hause nicht oder nur wenig gelesen wird, würden sich etwa schwerer tun.
Soziale und migrationsbedingte Unterschiede bei den Lesekompetenzen zeigt auch die Iglu-Studie – seit ihrer ersten Erhebung vor 20 Jahren beinahe unverändert. Sowohl Kinder, die zu Hause kein Deutsch sprechen, als auch Kinder aus Haushalten mit weniger als 100 Büchern liegen in ihrer Leseleistung gut ein Schuljahr zurück.
Die Schere ist durch die Corona-Pandemie noch größer geworden, sagt Antje Voss: „Die Kinder aus bildungsnahen Familien haben eigentlich kaum Einbußen gehabt. Aber die Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund und die aus Familien, in denen Bücher nicht selbstverständlich sind, haben stark verloren in der Zeit.“
Mittel für mehr Chancengleichheit
Die Schule versucht das mit so vielen Mitteln wie möglich aufzufangen. Bereits vor der Einschulung bietet die GGS Hand Sprachförderung an. Kinder, die ab diesem Sommer die erste Klasse besuchen werden und bei der Eingangsdiagnostik sprachlich aufgefallen sind, kommen bereits jetzt zweimal die Woche vor der Kita in die Schule. Die hauseigene Sozialpädagogin liest ihnen vor, guckt sich ihre Stifthaltung an, übt Deutsch mit ihnen.
Eine solche Früherkennung und gezielte Förderung vor der Einschulung hat Ministerin Dorothee Feller gerade erst für ganz NRW angekündigt.
In den ersten Klassen können sich Eltern und Großeltern an der GGS Hand als Vorlese-Helfer:innen einbringen – so könne jedes Kind einmal einem Erwachsenen vorlesen, was im normalen Schulbetrieb nicht möglich sei.
Ab dem kommenden Schuljahr wollen Antje Voss und Schulleiterin Barbara Dortmann ein Lesepaten-Programm einführen: Dabei lesen die Kinder aus den vierten Klassen für die aus den zweiten Klassen und die Drittklässler:innen für die Erstklässler:innen.
Bereits jetzt gibt es individuelle Leseförderung durch die Leiterin der Schulbücherei und sogenanntes Team-Teaching im multiprofessionellen Team. Das heißt, neben den Lehrer:innen kommen auch Mitarbeiter:innen der Offenen Ganztagsschule, zwei Sonderpädagog:innen und die Sozialpädagogin regelmäßig in alle Klassen.
So können schwächere Kinder da abgeholt werden, wo sie stehen – und stärkere Kinder durch Extra-Aufgaben weiter gefördert werden.
Mehr Räume, mehr Zeit und genügend Personal
In allen Klassen liegen Bücher, Zeitschriften und auch differenzierte Leseangebote: Hefte in fünf Farben, die für fünf Schwierigkeitsstufen stehen und die sich die Kinder selbstständig und je nach Interesse aussuchen dürfen. Außerdem gibt es insgesamt acht „Lies mal“-Hefte, die sie ihrem eigenen Lesetempo entsprechend ab Klasse eins durcharbeiten können.
Kinder, die eine andere Muttersprache haben, werden zusätzlich in Deutsch als Zweitsprache unterrichtet. Aber dafür brauche es, genau wie für alle anderen Maßnahmen zur Leseförderung, eigentlich mehr Zeit, sagt Voss.
Sie begrüßt die Ankündigung der nordrhein-westfälischen Bildungsministerin Dorothee Feller, ab dem kommenden Schuljahr verbindliche Lesezeiten von dreimal 20 Minuten pro Woche einzuführen.
Allerdings müsse im Deutschunterricht nicht nur gelesen werden – obwohl die GGS Hand darauf schon den Fokus richtet. „Ein bis zwei Deutschstunden pro Woche mehr würden uns helfen“, sagt Voss.
Was sie sich wünschen würde: „Mehr Räume, um besser differenziert arbeiten zu können, mehr Zeit und genügend Personal, um den Kindern ein positives Leseerlebnis in der Schule zu ermöglichen und diese so wichtige Kulturtechnik inklusive aller nötigen Vorläuferfähigkeiten richtig fördern zu können.“
An Ideen mangelt es in der GGS Hand jedenfalls nicht.
Eine wunderbare Idee. Passt sehr gut zu dieser Schule und ihrem sehr engagierten Lehrpersonal
„Einer der Gründe, warum die Lesekompetenz der deutschen Schüler:innen so stark abnimmt, ist laut Deutschlandfunk der veraltete Lehrstoff.“
Das wage ich zu bezweifeln. Der wichtigste Grund ist die Tatsache, dass Erwachsene den Kindern nicht vorlesen und Erwachsene selbst nicht lesen. Das kann die Schule nur auffangen, indem man den Kindern dort vorliest. Die Schule ist durch ständige pädagogische Experimente geprägt, die meistens schief laufen.
Wo hier vermeintlich „veralteter Lernstoff“ und damit angeblich wohl schädlicher Lernstoff vorherrschen soll, bleibt völlig unklar. Kinder müssen durch gute Geschichten zum Lesen bewogen werden. Diese Motivation durch irgendwelche Apps zu untergraben ist kontroproduktiv. Die beschriebenen „Lesestrategien“ stellen einen vollkommen unnatürlichen Zugang zu fiktionalen Texten dar und lassen die Sache komplizierter erscheinen, als sie ist.
„Ein bis zwei Deutschstunden pro Woche mehr würden uns helfen“
Da muss ich zustimmen. Diese zwei Deutschstunden könnte man sehr leicht dadurch gewinnen, dass man in der Grundschule auf Englischunterricht verzichtet. Dazu fehlt aber der politische Wille.