Gerade ist der aktuelle Jahresbericht der Katholischen Ehe-, Familien- und Lebensberatung erschienen – unter dem Titel „Kraft gewinnen in komplexen Zeiten“. Im Interview erklärt die Leiterin der Beratungsstelle, Nina Tackenberg, was unsere Zeit so komplex macht, dass immer mehr Menschen unter Erschöpfung leiden, was das mit der politischen Entwicklung zu tun hat und was helfen kann.

Frau Tackenberg, warum sind unsere Zeiten komplex?
Vielen Menschen erscheint es aktuell, als jage eine Herausforderung die Nächste, sei es auf persönlicher, gesellschaftlicher oder globaler Ebene. Als mache das Durchatmen an der einen Stelle nur den Blick auf die nächste Schwierigkeit frei.

+ Anzeige +

Hinzu kommt, dass die unterschiedlichen Krisenthemen viel miteinander zu tun haben, sich gegenseitig zu bedingen und zu verstärken scheinen. Dieser Eindruck wird noch intensiviert durch die nie da gewesene Fülle und Dichte der Informationen, mit der jede und jeder von uns umgehen muss, sowie durch die Schnell(leb)igkeit und empfundene Negativität der Nachrichten.

Im Vorwort schreiben Sie, dass viele Menschen, die zu Ihnen in die Beratung kommen, erschöpft sind – erschöpft von der Komplexität unserer Zeit. Wen betrifft das, was sind das für Menschen?
Natürlich gibt es je nach Lebensphase und Lebenssituation einige Spezifika, dennoch betrifft es grundsätzlich alle Altersklassen.

Die Stressreaktion ist eigentlich für eine kurzfristige Mobilisierung aller unserer körperlichen und geistigen Kräfte ausgelegt.

Wie fühlt sich diese Erschöpfung an?
Körperlich spürbar ist sie häufig in geringerer Leistungsfähigkeit, Müdigkeit und Beschwerden wie Verspannungen, Rückenschmerzen. Mental sind Gereiztheit, Konzentrationsschwierigkeiten und ein Wunsch nach Rückzug zu spüren. Es sind die ‚klassischen‘ Langzeitfolgen von Dauerstress, wenn man so will.

Die Stressreaktion ist eigentlich für eine kurzfristige Mobilisierung aller unserer körperlichen und geistigen Kräfte ausgelegt. Doch durch das bereits benannte hohe Tempo, durch die Dichte an Informationen, die ständige Erreichbarkeit und so weiter ist diese Stressreaktion bei vielen Menschen dauerhaft aktiviert.

Das wirkt sich auf das Herz-Kreislauf-System, Verdauungssystem, Immunsystem, unsere Psyche – kurz: auf uns Menschen als gesamtes System aus. Und es ist ein Teufelskreis, denn die Erschöpfung verstärkt das Erleben persönlicher Krisen und umgekehrt.

Haben sich die Komplexität und die Erschöpfung seit dem Ende der Pandemie noch einmal zugespitzt?
Das ist schwer zu sagen. Es hat zumindest keine große Entspannung stattgefunden. Und die Pandemie scheint auch immer noch Spätfolgen zu zeigen. Die langen Phasen des Lockdowns haben ja nicht nur neue Schwierigkeiten erzeugt, sondern in vielen Fällen vorher schon bestehende Probleme – gerade im zwischenmenschlichen Bereich – verschärft oder deutlicher hervortreten lassen.

Nina Tackenberg. Foto: Daniel Schubert

Hinzu kommt die nicht unerhebliche Zahl an Menschen, die in dieser Zeit existentielle und finanzielle Sorgen entwickelt hat, die sich beruflich und persönlich ganz neu aufstellen musste. Das wirkt nach.

Und es ging dann direkt über in eine Zeit, die ebenfalls als bedrohlich erlebt wird: Mit der Ahrtal-Katastrophe zeigten sich deutlich die realen und noch weiter denkbaren Folgen des Klimawandels, kurz darauf verschärfte sich der Krieg in der Ukraine, der erste Krieg auf europäischem Boden nach einigen Jahrzehnten des Friedens. Und so ließe sich die Reihe fortsetzen.

Sehen Sie da auch einen Zusammenhang mit der aktuellen politischen Entwicklung – Vertrauensverlust in die Regierung, in die Demokratie, Hinwendung zu populistischen, einfache Lösungen versprechenden Parteien?
Es gibt interessante Untersuchungen zum Konzept des „need for cognitive closure“ – einem Bedürfnis nach „kognitiver Geschlossenheit“ des Sozialpsychologen Arie Kruglanski. Er geht davon aus, dass der menschliche Verstand gelegentlich ‚dicht macht‘, um aus dem Schwebezustand des Grübelns und Abwägens herauszukommen.

Der Verstand schafft damit die Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen und weiterzumachen. Es ist so gesehen ein lebensnotwendiges Konzept, um überhaupt ins Tun zu kommen. Wie hoch das Bedürfnis nach kognitiver Geschlossenheit ist, ist individuell sehr unterschiedlich und hängt vom Temperament, den eigenen Entwicklungserfahrungen und auch von situativen Umständen ab.

Überforderung und Erschöpfung des Einzelnen kann Einfluss nehmen auf seine politischen Ansichten und Entscheidungen.

Wenn wir davon ausgehen, dass die situativen Umstände in unserer Gesellschaft momentan das Stresserleben steigern, dann verstärkt sich damit auch das Bedürfnis nach cognitive closure. Folgen davon sind erstens eine schnelle Urteilsbildung – das heißt, die Bereitschaft steigt, ein erstbestes Argument zu nehmen, um ein Urteil zu fällen – und zweitens ein Beharren auf einer einmal gefundenen Meinung.

Insofern kann man durchaus sagen, dass Überforderung und Erschöpfung des Einzelnen Einfluss nehmen können auf seine politischen Ansichten und Entscheidungen. Das sind natürlich keine 1:1-Zusammenhänge, und dennoch ist das ein sehr wichtiger zu berücksichtigender Aspekt.

Die EFL bietet Beratung für Einzelpersonen, Paare und Familien, unabhängig von Religionszugehörigkeit, Nationalität, geschlechtlicher Identität und sexueller Orientierung. Die Beratung ist kostenfrei und unterliegt der Schweigepflicht. Manchmal reichen einige wenige Gespräche aus. Bei Bedarf begleitet die EFL auch durch längere schwierige Zeiten.

Katholische Beratungsstelle für Ehe-, Familien- und Lebensfragen
Hauptstr. 227
51465 Bergisch Gladbach
Telefon: 02202 / 34918
E-Mail: info@efl-bergisch-gladbach.de
Internet: www.efl-bergisch-gladbach.de

Das Ausbrechen aus der Erschöpfung könnte also nicht nur für die einzelnen Betroffenen enorm wichtig sein, sondern sogar gesamtgesellschaftliche Bedeutung haben. Was sind mögliche (individuelle) Strategien, um wieder Kraft zu gewinnen?
Eine Grundvoraussetzung ist erstmal mitzubekommen, was bei mir los ist. Dafür braucht es ein Aufmerken bei den oben genannten Symptomen: Was bemerke ich an meiner Stimmung, meinen Gefühlen? Gibt es körperliche Symptome wie Verspannungen, Schmerzen?

In unserem Alltag ist oft wenig Zeit innezuhalten. Hier ist das manchmal überstrapazierte Konzept der Achtsamkeit wichtig: Ich muss mich darin üben, kurz innezuhalten und mich und meine Umgebung bewusst wahrzunehmen. Vielleicht braucht es auch den Blick von außen, daher ist es gut und wichtig, aufeinander zu achten – beispielsweise auch Menschen in meinem Umfeld anzusprechen, wenn mir auffällt, dass sie erschöpft, belastet, gereizt wirken.

Ein wichtiger – wenn nicht der wichtigste – Pfeiler bleibt nach allen Untersuchungen zu psychischem Wohlergehen und Resilienz immer der zwischenmenschliche Kontakt.

Das heißt – auch wenn es nach den „All Time Favourites“ klingt: Der Schlüssel liegt in der Erkenntnis, wie eng Körper und Geist verbunden sind. Jede und jeder kann da eigene Zugänge für sich finden. Die Achtsamkeitspraxis ist nur einer davon.

Ein wichtiger – wenn nicht der wichtigste – Pfeiler bleibt nach allen Untersuchungen zu psychischem Wohlergehen und Resilienz immer der zwischenmenschliche Kontakt. Die wenigen, als qualitativ gut erlebten Beziehungen, die machen oft den Unterschied, ob ich es schaffe, mit innerem Stress umzugehen. Mit anderen ins Gespräch zu kommen, mich zu öffnen, möglicherweise auch festzustellen, dass es ihnen ähnlich geht, kann sehr zur Entlastung beitragen.

Quelle u.a.: www.psychologie-heute.de/leben/artikel-detailansicht/39121-mut-zur-unsicherheit.html

Wir dokumentieren den Jahresbericht der EFL:

Weitere Beiträge zum Thema

Something went wrong. Please refresh the page and/or try again.

ist freie Reporterin des Bürgerportals. Geboren 1984, aufgewachsen in Odenthal und Schildgen. Studium in Tübingen, Volontariat in Heidelberg. Nach einem Jahr als freie Korrespondentin in Rio de Janeiro glücklich zurück in Schildgen.

Reden Sie mit, geben Sie einen Kommentar ab

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.