Das in Finanznot geratene Theas Theater hatte gerufen, und keiner der Kandidaten verweigerte sich: Alle sechs Bürgermeisterkandidaten traten bei einer Benefiz-Lesung in dem kleinen freien Theater auf. Allerdings nicht ganz uneigennützig, denn jeder der sechs Politiker nutzte die Gelegenheit, im Rampenlicht zu stehen. Und alle sechs gaben in dem intimen Kreis tiefe Einblicke in ihr politisch-literarisches Seelenleben. Sicherlich inszeniert – und dennoch aufschlussreich. Urteilen Sie selbst.
Mal links herum, mal rechts herum
Lutz Urbach, amtierender Bürgermeister und Kandidat der CDU, wählt einen schwarzen Stuhl, setzt sich auf die Bühne und kündigt einen Auszug aus dem Buch eines Autors an, mit dem er „gemeinsam schon einiges bewegt“ habe.
Tatsächlich handelt es sich das Sachbuch „Sonst noch Fragen“ von Ranga Yogeshwar, mit dem Urbach in seiner Zeit in Hennef eine Jugendstiftung gegründet und der für den damaligen Neuling in Bergisch Gladbach Werbung gemacht hatte. Urbach trägt eine Geschichte rund um ein typisches Alltagsrätsel vor: In welche Richtung dreht sich der Strudel im Abfluss. Der Clou der Geschichte: die scheinbar einfachen, womöglich wissenschaftlich belegten Antworten, sind nicht immer die richtigen.
Und im Fall des Strudels: unbeirrt von physikalischen Gesetze dreht sich der Strudel links herum. Oder rechts herum.
Von der Unmöglichkeit, die Zeit zu erzählen
Jörg Krell, Kandidat der FDP und Freund klarer Managementmethoden, nimmt einen unscheinbaren Stuhl aus Naturholz und schlägt Thomas Manns „Zauberberg“ auf. Dieses Buch habe ihn „unendlich fasziniert“ und gehöre neben dem alten Testament zu den einzigen beiden, die er auf die berühmte einsame Insel mitnehmen würde.
Krell liest aus dem 7. Kapitel, dem Strandspaziergang, in der sich Hans Castorp mit dem Phänomen der Zeit beschäftigt, ausgehend von der Frage: „Kann man die Zeit erzählen?” Man kann es natürlich nicht, wie sich bei Krells ruhigem, so völlig aus der hektischen Wahlkampfzeit gefallenen Vortrag zeigt.
Alles andere – nur kein „Ohne-mich-Typ“
Tomas M. Santillan, Kandidat der Linken greift zielsicher zum Stuhl mit rotem Samt und goldener Lehne. Es passt, denn er hat sich eine politische Kampfschrift ausgesucht, die mit dem Gegensatz von Arm und Reich abrechnet. Stéphane Hessels „Empört Euch!“ beschäftigt sich mit dem Kampf zwischen Wohlstand, Solidarität und Bereicherung, mit den Exzessen der Finanzmärkte, die Demokratie und Frieden gefährdeten.
Nach einer kurzen Vorstellung des Autors, des Widerstandskämpfers und Mitverfasser der Uno-Charta, liest Santillan eine Passage über die „Ohne-mich-Typen“: diese seien das Schlimmste, weil ihnen die Fähigkeit zur Empörung abhanden gekommen ist.
So viele Gründe, etwas nicht zu tun
Michael Schubek, der Lufthansa-Manager und SPD-Kandidat, der mit der eigenen Partei nicht so richtig glücklich wird, greift zu einem bunten Stuhl im Graffitistil, der sei „so lebendig wie die Stadt“. Schubek hatte den Termin zunächst abgesagt, weil er anders verplant war, erschien dann kurzfristig aber doch. Daher habe er, so behauptet Schubek, rasch in den Bücherschrank gegriffen und einen Gedichtband herausgezogen, der ihn seit 30 Jahren begleite.
Der Autor ist Erich Fried – und der SPD-Mann liest das Gedicht „Gründe“. Ganz bestimmt nicht zufällig. Denn zunächst werden viele Gründe aufgezählt, etwas NICHT zu tun, zum Beispiel „Weil man nur lachen wird; Auf dich haben sie gewartet / Und warum immer ich? Keiner wird es mir danken.“ Erst ganz zum Schluss kommt die Auflösung, vielleicht auch für Schubek ganz persönlich, wenn diese Gründe des Nichtstun als „Todesursachen“ entlarvt werden.
Schubek hat noch ein zweites, sehr kleines Stückchen aus der Feder des chinesischen Philosophen Mo Di, der sich mit der Frage befasst hat, wieviel man reden soll. Dabei vergleicht er den Frosch im Teich, der ohne Unterlass quakt, und dem Hahn, der nur zweimal kräht – und dennoch gehört wird. Eine Maxime für den Wahlkampf und darüber hinaus?
Eine Symphonie von Brecht bis zu den Ärzten
Peter Baeumle-Courth, Kandidat der Grünen, hat einen Stapel dünner und ein dickes Buch mitgebracht. Er wählt natürlich den grünen Stuhl, als Buchablage. Stehend und gehend trägt der FHDW-Dozent eine „Symphonie“ von Textfragmenten vor.
Den 1. Satz liefert Bert Brecht mit dem Gedicht „Den Nachgeborenen“, mit dem Baeumle-Courth zunächst gesteht, keine Hoffnung mehr zu haben. Doch gleich legt er ein satirisches Gedicht vor. Es schildert, was passiert, wenn zwei unbemannte Lieferdrohnen zusammenstoßen und Feuerwehrroboter zur Hilfe kommen. Ein Stück aus eigener Feder, wie der IT-Professor anschließend bekennt.
Dann erst kommt der Hauptsatz, ein Ausschnitt aus Mark Twains „Reise nach Deutschland“, die unter anderem in die Qual einer King Lear-Aufführung in Mannheim führt.
Dann folgt wieder ein Gedicht, mit der schönen Zeile: „Es ist nicht deine Schuld / Dass die Welt ist, wie sie ist / Es wär nur deine Schuld / Wenn sie so bleibt”, bei dem es sich, wie der Dozent erst anschließend verrät, um einen Songtext der Band „Die Ärzte“ handelt.
Und dann noch einmal Bert Brecht, mit einem (leicht veränderten) kleinen Liebesgedicht: „Die, die ich liebe / Hat mir gesagt / Daß sie mich braucht. / Darum / Gebe ich auf mich acht / Sehe auf meinen Weg und / Fürchte mich vor jedem Regentropfen /
Daß er mich erschlagen könnte.“
Das Einzige was es zu fürchten gilt ist die Furcht selbst
Klaus Graf, Kandidat der Demokrative14, hat das Schlusswort, dafür hat er mit höflichem Nach-hinten-drängeln gesorgt. Der professionelle Sprecher hat zudem ein Heimspiel, und als einziger hat er sich eine politische Rede ausgesucht. Im Sitzen, wie 1933 der an Polio erkrankte Franklin D. Roosevelt, trägt er die erste Antrittsrede des 32. US-Präsidenten vor.
Roosevelt hielt diese Rede mitten in der Weltwirtschaftskrise, am Vorabend des zweiten Weltkrieges. Die Menschen brauchten Hoffnung und daher, so zitiert Graf den Demokraten, sei es das oberste Gebot, „die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit“. Doch er sei sich sicher, dass das Volk wieder aufbblühen und gedeihen werde. Der Schlüsselsatz: „Das Einzige, was wir zu fürchten haben ist die Furcht selbst.“
Rund 80 Jahre später, so Graf, habe diese Rede eine „gespenstige Aktualität“, es fehle an Visionen, an Kraft. Daher sei es wohl offensichtlich, warum er diese Rede ausgewählt habe.
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Ein Nachtrag: Die ganze Lesung diente vor allem, auf die Notlage des Theas aufmerksam zu machen, dass trotz aller Sympathie auch bei den Politikern ohne öffentliche Finanzierung auskommen muss. Wie es um das Theas steht und was Sie zur Rettung beitragen können, erfahren Sie hier.