Das Blasen des Widderhorns und das Gebet Kol Nidrei – beides sind zentrale Elemente der hohen jüdischen Feiertage Rosch Haschana und Jom Kippur, die Mitte September begangen werden. Der Musiker Roman Salyutov erklärt, was es mit den Festen auf sich hat. Und er gibt einen sehr persönlichen Einblick, wie er diese Feiertage begeht und welche einschneidenden Ereignisse er damit verbindet.

Rosch Haschana und Jom Kippur – das sind für mich Tage, in denen man sich auf sich selbst besinnt“, erzählt Roman Salyutov. Da widme man sich Dingen, die ansonsten im Alltag untergehen würden, die man „auf die nächste Woche“ verschiebe, die dann aber nie komme.

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Salyutov stammt aus St. Petersburg, ist Musiker, Musikwissenschaftler, lebt und arbeitet in Bergisch Gladbach. Seine Eltern, die seit 20 Jahren in Köln wohnen, hatten ihr Judentum während der Zeit in Russland und vor allem zur sowjetischen Zeit nicht praktiziert – eine Folge der Säkularisierung des Landes. Salyutov selbst versteht sich als als Anhänger des orthodoxen Judentums.

Eintrag ins Buch des Lebens

Roman Salyutov bei einem Aufenthalt in Israel, Foto: privat

Anders sein Großvater – er war Mitglied der Gemeinde in der großen Choral-Synagoge in St. Petersburg, es sei die zweitgrößte Synagoge Europas, nach jener in Budapest.

„Großvater wollte nach Israel ausreisen, das Ausreisevisum war damals schwer zu bekommen“, blickt Salyutov zurück. Als er es nach Jahren endlich in den Händen hielt, erlitt er eine Herzattacke und starb. Er ist Salyutovs religiöser Bezugspunkt.

Am 15. September beginnt für ihn, den Enkel Roman Salyutov, die religiös wichtigste Zeit des Jahres: Rosch Haschana, das Neujahrsfest (Details zum Fest siehe Beitragsende).

Literatur-Tipp: Jüdisch jetzt!

Einen guten Einblick in Salyutovs Werdegang von St. Petersburg nach Deutschland, in seine jüdischen Wurzeln, in die Frage von Integration und Assimilation und in seine Religiösität liefert ein Interview im kürzlich erschienenen Buch

„Jüdisch jetzt!“, Andrea von Treuenfeld
Gütersloher Verlagshaus, 256 Seiten
ISBN: 978-3-579-06283-9


Interviews u.a. mit Roman Salyutov, Daniel Grossmann und Daniel Barenboim, die einen Überblick über jüdische Identität und jüdisches Leben in Deutschland geben.

„Es ist für mich ein Tag des Erinnerns an die eigenen Taten, verbunden mit vorsichtiger Freude“, sagt Salyutov. Man prüfe sich selbst, ob man die 613 Ge- und Verbote des Judentums in den vergangenen zwölf Monaten eingehalten habe. Und wie darüber hinaus die eigenen Taten waren, die er immer wieder in ein Bild packt: „Ich hoffe, dass mein Name ins Buch des Lebens eingeschrieben wird.“

Das Blasen des Schofar

Es sei ein ruhiges Fest, Salyutov verbringe die Zeit überwiegend in der Kölner Synagoge an der Roonstraße. Manche Juden würden in dieser Zeit an einem Fluss entlang spazieren und darin symbolisch ihre Taschen entleeren. Als Zeichen der Reinigung.

„Der Mensch ist dabei alleine im Dialog mit Gott“, es gebe keine dritte Person die wie im Katholizismus befugt sei, den Menschen im Namen des Allmächtigen von den Sünden zu erlösen.

Eines der wichtigsten Signale sei das Blasen des Schofar, des Widderhornes, das in der Gemeinde durch den Kantor erledigt werde. Damit würden die zehn Tage der Selbstreflexion eingeleitet.

Jüdisches Leben in Bergisch Gladbach

Wie viele jüdische Menschen in Bergisch Gladbach leben oder wie sie sich vor Ort organisieren ist nicht zu erfahren, weder Stadt noch Kreis haben Daten.

Vereine oder Institutionen zur Organisation gibt es nach unseren Infos in GL nicht.
Gebetet wird in der Synagoge Köln, dort gibt es auch einen Kiosk für koschere Einkäufe.

Kontakte zur Partnerstadt Ganey Tikva in Israel pflegen zwei Vereine: Städtepartnerschaft Ganey Tikva Bergisch Gladbach e.V. und der Verein zur Förderung der Städtepartnerschaft Ganey Tikva – Bergisch Gladbach e.V.

An der Klagemauer in Jerusalem, Foto: Privat

Heiliges Fasten an Jom Kippur

Die Tage der Selbstreflexion enden mit Jom Kippur, dem Versöhnungsfest (Details zum Fest am Beitragsende), „ein 25-stündiges, heiliges Fasten“, erklärt Salyutov. Festlich, aber nicht protzig gehe es am Vorabend und am Tag selbst in die Synagoge zu, in weiß gewandt, „das ist unsere Farbe der Totenbegleitung.“

Egal ob arm oder reich, man wolle keine Unterschiede zeigen, auch Lederschuhe als Zeichen von Reichtum seien dann verpönt. Ebenso teure Uhren.

„Es gelten die Regeln wie an Schabbat, ergänzt um das Fasten“, so Salyutov. Den Auftakt mache am Vorabend das Gebet Kol Nidrei: „Das ist hebräisch und bedeutet Alle Gelübde.“

Was ist an Schabbat gestattet? „Gott hat Euch ein Gehirn gegeben, also nutzt es“, zitiert Roman Salyutov dazu den Baron Jonathan Sacks, der von 1991 bis 2013 britischer Großrabbiner gewesen ist.

Damit hatte dieser auf die Frage geantwortet, was an Schabbat – dem jüdischen Ruhetag in der Woche – getan werden darf und was nicht. Das gelte auch für die Ruhezeiten an den genannten Feiertagen.

Vier Gottesdienste gebe es zu Jom Kippur, verteilt über den Tag. Der Gottesdienst am morgen sei mit dreieinhalb bis vier Stunden der längste.

In dieser Zeit quartiere er sich bei Freunden ein, da das Autofahren von Bergisch Gladbach nach Köln an Schabbat nicht gestattet sei. Frauen und Männer würden gemeinsam in der Synagoge beten, man sitze nur getrennt.

Anekdote: „Den Weg gefunden“

Die Einhaltung der Regeln am Schabbat, dem jüdischen Ruhetag, sind Roman Salyutov sehr wichtig. Es ist alles andere als einfach – mittendrin in einer nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft. Aber man arbeite an sich selbst, diesbezüglich besser zu werden. 

Augenzwinkernd berichtet er von einer Situation, in der während des Gebets an einem vergangenen Schabbat ein Handy in der Synagoge klingelte.

„Wie kann man nur so wenig Ahnung und Respekt vom Schabbat haben“, kommentierte der Rabbiner, aber zeigte sich zuversichtlich: „Immerhin: Selbst jene, die dies nicht haben, verspüren den Drang, an Schabbat in die Synagoge zu gehen.“

Demut

„Jom Kippur – der Tag steht im Zeichen der Demut“, das sei für ihn nicht nur eine Floskel, sagt Salyutov. Vor rund einem Jahr habe er einen Unfall in Australien mit dem Auto gehabt. Ein Sekundenschlaf, er habe das Lenkrad noch herumreißen können, sonst wäre er unter einen LKW gezogen worden, mit drastischen Konsequenzen.

„Warum wurde ich wach und konnte ausweichen? Da gibt es noch etwas anderes das über mich wacht.“

Der Unfall in Australien war und ist ein drastisches Ereignis für ihn. Es wird – so viel ist klar – seine Tage der Selbstreflexion in diesem Jahr besonders prägen.

porträt

Ehrt die Alten

Es gibt vergleichsweise wenig äußerliche Rituale und Symbole, welche die Feiertage Rosch Haschana und Jom Kippur prägen, macht Salyutov klar. Zentral sind das Blasen des Schofar, des Widderhorns. Und das Fasten an Jom Kippur, eingeleitet durch das Gebet Kol Nidrei.

Mit Ariel Louis (Flötenbauer, Maler, Rabbiner) und einem Gemälde seines Onkels Benjamin Gurewitsch, der in St. Petersburg als orthodoxer Rabbiner lehrte, Foto: privat

Und vielleicht das Licht: „Wir zünden zu Jom Kippur eine Kerze an, die sollte während der 25-stündigen Fastenzeit ständig brennen.“ Manche würden zudem eine Kerze für die verstorbenen Eltern dazustellen.

Überhaupt – Respekt vor den Alten. Nicht nur sein Großvater ist für Salyutov von zentraler Bedeutung. Auch ein ihm völlig unbekannter alter Mann, den er im August bei einem Aufenthalt in Jerusalem um Mitternacht an der Klagemauer getroffen habe.

„Er kam nachts in abgetragenen Kleidern zur Klagemauer, als ich dort ein wenig Ruhe suchte. Der Mann fing an zu beten, die Gläubigen um ihn herum ließen sich anstecken, hörten ihm anschließend zu, als er einfach anfing über das Leben zu erzählen.“

Die deklamatorische Pose des Mannes, seine erhobene Hand – das gehe ihm nicht mehr aus dem Kopf. „Es zeigte mir, wie wichtig die Kraft der Überzeugung ist, wenn sie aus dem Inneren kommt.“ Auch wenn es ein kleiner, armer Mann an der Klagemauer nächtens in Jerusalem ist.

Hintergrund zu den Feiertagen

Rosch Haschana (hebräisch: Kopf des Jahres) ist das jüdische Neujahrsfest und zugleich der Jahrestag der Erschaffung der Welt und des Menschen. Es fällt in 2023 auf den 16. und 17. September. Das Fest wird eher ruhig begangen und eröffnet eine zehntägige Selbstreflexion, die mit Jom Kippur endet.

Während Rosch Haschana soll Gott Gericht über die Menschen halten, sie für ihre Taten des vergangenen Jahres beurteilen. Mit Gebeten wird der Bund zwischen Mensch und Gott erneuert. Als Zeichen der Reinheit und Erneuerung gehen viele Menschen weiß gekleidet zum Gebet in die Synagoge. Höhepunkt des Gebets ist das Blasen des Schofars, des Widderhorns.

Traditionell gibt es an Rosch Haschana symbolische Speisen wie runde Hefezöpfe als Symbol für den Jahreskreislauf. Typisch sind auch in Honig getauchte Apfelschnitze sowie Granatäpfel. Man wünscht sich ein „gutes und süßes neues Jahr“ mit dem Vorsatz, im neuen Jahr viel Gutes zu tun.

Quellen

Beautragter der Bundesregierung für jüdisches Leben

Interreligiöser Kalender des NRW-Ministeriums für Integration

Verband progressiver Jüdischer Gemeinden in NRW e.V.

Weitere Details auch auf Wiki: Rosch Haschana und Jom Kippur

Jom Kippur, das Versöhnungsfest, wird zehn Tage nach Rosch Haschana begangen (25. September 2023), den Feiertagen, an denen die Menschen für die Taten ihres vergangenen Jahres beurteilt wurden.

Jom Kippur ist ein heiliger, rund 25 Stunden währender Fastentag. Er bietet die Möglichkeit, das Urteil aus Rosch Haschana durch Reue und Umkehr noch positiv zu verändern.

#darumfeiernwir: In Bergisch Gladbach wird mehr als nur Ostern und Weihnachten gefeiert. Aber nicht jedes Fest wird – so wie die christlichen Feiertage – in der Öffentlichkeit sichtbar. Darum berichtet das Bürgerportal unter dem Hashtag #darumfeiernwir über Feste und Bräuche von Religionsgemeinschaften und Menschen internationaler Herkunft. Und zeigt damit die Vielfalt unserer Stadtgesellschaft auf.

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ist Reporter und Kulturkorrespondent des Bürgerportals.

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