Mechthild Münzer. Foto: Beatrice Tomasetti

Seit sechs Monaten engagiert sich Mechtild Münzer für Geflüchtete aus der Ukraine – und beobachtet, dass erst jetzt, nach der Orientierung in der fremden Umgebung, die psychischen Wunden sichtbar werden. Das betreffe vor allem Kinder und Jugendliche, berichtet die Ehrenamtlerin im ausführlichen Interview. Schwierige Fragen klammert sie nicht aus.

Frau Münzer, vor knapp sechs Monaten sind die ersten Flüchtlinge aus der Ukraine in Bergisch Gladbach angekommen. Wie haben Sie das erlebt und was war in der Akutsituation zunächst das Wichtigste?

Mechtild Münzer: Hauptsächlich kamen ja Frauen – meist mit ihren Kindern. Das hat sofort eine große Bewegung von Hilfsangeboten in Gang gesetzt. Es gab eine überwältigende Willkommenskultur. Viele Menschen haben ihre Türen geöffnet, um die Geflüchteten in ihrem eigenen Haus aufzunehmen. Da entbrannte ja geradezu ein Hype um diese Menschen.

Mir war gleich klar, dass das nicht so bleiben würde. Auch die Frauen hat das eher irritiert. Man muss bedenken, die kamen aus einem Kriegsgebiet, mussten dafür Ländergrenzen passieren – viele flüchteten über Polen – und kamen zunächst in Erstaufnahme-Einrichtungen. Das heißt, sie waren tief verunsichert und wussten oft nicht, wie es am nächsten Tag für sie weitergehen würde. Manche waren zum ersten Mal überhaupt außerhalb der Ukraine unterwegs.

Ich selbst bin diesen Menschen mit Freundlichkeit und Verständnis begegnet, habe sie aber vor allem auch in ihrer Trauer und Angst ernst genommen. Und ich weiß aus Erfahrung, dass es wichtig ist, sich ziemlich rasch um die Kinder zu kümmern. Kontakt und vertrauensbildende Maßnahmen funktionieren immer am besten über die Kinder.

Wenn die Mütter sehen, dass für ihr Kind gesorgt wird, geht es auch ihnen gut. Von den 44 Geflüchteten, die bei uns (in Moitzfeld) ankamen, waren fast die Hälfte Kinder, und da bin ich dann schnell in den unterschiedlichsten Schulen vorstellig geworden, einschließlich einem Berufskolleg, um sieben Jugendliche unterzubringen.

Also, für die Kinder war diese Tagesstruktur mit mehreren Unterrichtsstunden ganz wichtig. Und die Mütter – das war deutlich zu spüren – wollen grundsätzlich nur das beste Bildungssystem für ihre Kinder.

Hintergrund: Mechthild Münzer ist Mitglied im Ökumenekreis „Wir für neue Nachbarn“ in Bensberg-Moitzfeld und engagiert sich seit vielen Jahren ehrenamtlich für Flüchtlinge in Bergisch Gladbach.

Wichtig waren von Anfang an Sensibilität und Fingerspitzengefühl für das, was gebraucht wird. Man muss erspüren, in welcher Stimmung sich der Einzelne befindet, ihn reden lassen und Zeit zum Zuhören haben. Da muss man ganz viel Offenheit mitbringen für das, was gerade dran ist und belastet. Natürlich ist nach wie vor auch ganz viel Trost gefragt.

Schwierig war das Thema „Impfen“. Viele hatten gefälschte Impfausweise dabei, also mussten sie erst noch geimpft werden. In der Summe ist es natürlich anstrengend, jederzeit ansprechbar für die unterschiedlichsten Probleme zu sein. Aber ich bin für diese Menschen da und freue mich über jeden Fortschritt, der ihnen ihre Selbständigkeit zurückbringt und ihr Leid lindert – sofern das überhaupt möglich ist.

Als Kommunalpolitikerin saßen Sie über 20 Jahre lang im Stadtrat und im Integrationsrat und haben sich vor allem für Menschen mit Migrationshintergrund stark gemacht. Gibt es Unterschiede zwischen den Flüchtlingen, die vor sieben Jahren aus sehr unterschiedlichen Teilen der Welt zu uns gekommen sind, und denen aus der Ukraine? Es wird immer wieder kritisiert, dass es da seit Ausbruch des Ukraine-Krieges ein Zwei-Klassen-System gibt …

Münzer: Ich muss sogar noch weiter ausholen. Wir hatten am Ende der 1980er Jahre ja auch schon Flüchtlinge aus dem Kurden-Krieg; Menschen, die wirklich zu den Ärmsten der Armen gehörten. Vom Pfarrgemeinderat ging damals die Initiative aus, Nachtwachen zu organisieren, um die Flüchtlinge vor Anschlägen zu schützen. Denn niemand wollte wirklich diese Flüchtlinge haben.

Die erste und auch zweite Generation der Kurden wurde schlichtweg abgelehnt. Deswegen war ich auch im ständigen Klinsch mit der Stadt. Man wollte diese Menschen aus der Türkei so schnell wie möglich wieder loswerden.

2015 gab es dann den großen Ansturm aus Syrien, dem Irak, aus Afghanistan, Somalia und Nigeria. Auch diese Flüchtlinge wollten alle bleiben. Das viele ehrenamtliche Engagement, aber auch die Unterstützung durch die Behörden waren eine große Hilfe, und auch meine langjährigen Kontakte in die Stadt hinein bis zum Bürgermeister haben mir damals sehr geholfen. 

Aber im Nachhinein muss man dennoch sagen, dass die direkte Integration dieser Flüchtlinge nicht wirklich gelungen ist. Die Geflüchteten sind zum Großteil bis auf wenige Ausnahmen innerhalb ihrer Community geblieben.

Über das DRK-Familienbildungswerk haben wir damals Alphabetisierungs- und Integrationskurse angeboten, weil viele nicht lesen und schreiben konnten. Und nach und nach stellte sich heraus, dass diese Menschen sehr viel umgänglicher sind, wenn sie etwas zu tun haben.

Bei vielen ging es darum, ob sie bleiben dürfen oder abgeschoben werden. Da spielten sich mitunter Dramen ab, wenn um fünf Uhr morgens die Beamten vor der Tür der Flüchtlingsunterkunft standen und innerhalb einer halben Stunde alles gepackt sein musste.

Bei den Ukrainern nun ist das ganz anders. Sofort gab es für sie eine Menge an Vergünstigungen: Gutscheine für die Tafel, kostenlose Fahrkarten für Bus und Bahn, die schnelle Abwicklung der wichtigsten Papiere, Hartz IV-Geld, Kita- und Schulplätze, Schulsachen für die Kinder. Auch beim Thema Wohnungssuche wurden sie bevorzugt.

Das ist einfach denen gegenüber ungerecht, die es diesbezüglich all die Jahre schwerer hatten und noch haben. Klar, dass es dann da Verbitterung gibt.

Andererseits hat mich sehr überrascht, mit welcher Großzügigkeit die Menschen bei uns diesmal bereit waren, ihre Küche und ihr Bad mit fremden Menschen zu teilen.

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Allerdings hatte ich schnell den Eindruck, dass es nicht gut ist, es den ukrainischen Flüchtlingen so leicht zu machen. Man darf nicht vergessen: Die anderen Flüchtlinge gibt es ja auch noch. Alle sind sie doch auf Hilfe angewiesen. Und was meine eigene Rolle dabei angeht: Eigentlich müsste ich mich manchmal vierteilen.

Können Sie etwas über das Selbstverständnis der ukrainischen Flüchtlinge sagen?

Münzer: Diese Menschen haben einen ganz anderen Bildungsstand als die Flüchtlinge aus Osteuropa oder die Menschen aus Afrika oder vom Hindukusch. Die meisten Ukrainer haben studiert, kommen aus der gehobenen Mittelschicht und sind aufgrund ihres gewohnten Lebensstandards viel anspruchsvoller als die anderen Flüchtlinge.

Das zeigt sich in ihrer Erwartungshaltung: Sie wissen, was ihren Kindern zusteht, und versuchen das auch einzufordern. Wer geflohen ist, hatte jedenfalls das Geld zur Flucht. Von daher betrachten sie sich selbst auch gar nicht als Flüchtlinge. Der Status eines Geflüchteten entspricht nicht wirklich ihrem Selbstverständnis.

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Ganz anders verhält es sich mit den Flüchtlingen von 2015, die ein solches Selbstbewusstsein nie hatten. Sie kamen oft völlig entkräftet bei uns an. Man kann sagen, sie waren bei ihrer Ankunft richtig kaputt, wurden verachtet, waren gefoltert und aus ihrem Land vertrieben und manchmal sogar rausgeprügelt worden.

Die Ukrainer dagegen sind freiwillig geflohen, haben sich nicht aufs Geratewohl Schlepperbanden anvertraut, sondern eher allein auf den Weg gemacht und sind heil bei uns angekommen. Das macht einen großen Unterschied. Von daher sind beide Fluchtbewegungen überhaupt nicht miteinander zu vergleichen – außer dass die Menschen in beiden Fällen alles hinter sich lassen mussten und in eine ungewisse Zukunft aufgebrochen sind.

Nach sechs Monaten haben sich viele Ukrainer mit ihrer neuen Situation irgendwie arrangiert. Sie sind dankbar, dem Krieg in der Heimat entkommen zu sein. Andere aber sind auch schon wieder dorthin zurück, weil sie dauerhaft nicht in Deutschland bleiben wollen. Die Frauen vermissen ihre Männer, die Kinder ihre Väter. Was sind im Moment die größten Herausforderungen für ehrenamtliche Helfer wie Sie?

Münzer: Die meisten suchen gerade eine Wohnung, um dauerhaft auf eigenen Füßen zu stehen. Außerdem sind viele der freiwilligen Gastgeber inzwischen auch erschöpft. Das sorgt also für Unruhe auf beiden Seiten.

Dann mehren sich die Rückmeldungen aus Schulen, dass es dort auch nicht so einfach mit der Integration klappt. Ein 17-Jähriger zum Beispiel, der mit seiner Tante aus der Ukraine gekommen ist, verweigert sich völlig. Er ist aggressiv und steht kurz vor einem Schulverweis. Die Eltern sind zuhause in der Ukraine, und nun kommt ihr Sohn mit der neuen Situation, getrennt von allem Vertrauten zu sein, nicht zurecht.

Mit einem Mal kommen da alle Gefühle hoch. Wie es aussieht, braucht der Jugendliche dringend psychologische Hilfe.

Oder: Ein 15-jähriges Mädchen hat bereits einen Suizidversuch hinter sich und immer wieder depressive Schübe.

Ein Grundschulkind verschließt sich völlig und hat aufgehört zu sprechen. Weil der kleine Junge überhaupt nicht zu erreichen ist, wurde ihm nun ein Schulbegleiter zur Seite gestellt. Auch die Erziehungsberatungsstelle ist hier mit im Boot.

Über Caritas International wird versucht, psychotherapeutische Hilfen für diese traumatisierten Kinder anzubieten. Da bin ich gerade dran. Aber dafür sind unzählige Telefonate notwendig.

Viele der Kinder schleppen ein Päckchen an widersprüchlichen Gefühlen und Traumata mit sich herum, die sie nicht kanalisieren können. Denn natürlich haben sie gesehen, wie ihre Häuser zerstört wurden und dass der Vater zurückbleiben musste. Das macht ja etwas mit einer Kinderseele.

Nicht immer lassen sich die tieferen Gründe für Verhaltensauffälligkeit ergründen, auch weil es ja noch enorme sprachliche Barrieren gibt. Klar ist aber, dass sich jetzt, da die Frauen allmählich zur Ruhe gekommen sind, erst das ganze Leid zeigt, dem die Kinder und Jugendlichen bei Kriegsbeginn ausgeliefert waren, wenn sie die Raketeneinschläge in unmittelbarer Nachbarschaft mitbekommen haben. Da bleiben Wunden, die dringend behandelt werden müssen. 

Im Moment sehen Sie also den größeren Handlungsbedarf bei den Kindern?

Münzer: Ja, weil ihr Schmerz sich jetzt erst in seiner ganzen Tragweite offenbart. Waren sie bei ihrer Ankunft noch total mit der Stressbewältigung beschäftigt, sich in einer neuen Umgebung zurecht zu finden, zeigt sich inzwischen das ganze Ausmaß der Trauer über das, was sie schmerzlich entbehren, weil es von Bomben zerstört wurde. Sie haben ihren schulischen Alltag und ihr Zuhause, Familienangehörige und Freunde verloren.

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Nach der Flucht: Wie haben sich die Pushkarovs eingelebt?

Vor fünf Wochen haben wir von der Flucht der Familie Pushkarov aus der Ukraine nach Bergisch Gladbach erzählt. Seither ist viel passiert. Wir haben sie in ihrem Haus in Refrath besucht und uns berichten lassen, wie sich ihr Leben hier entwickelt.

Nun wartet ein kompletter Neuanfang auf sie. So eine Flucht ist schon für die Erwachsenen, die oft Angst um ihre alten zurückgelassenen Eltern haben und nicht wissen, ob sie sie je wiedersehen, eine große psychische Hypothek. Geschweige denn für ein Kind. 

Sie engagieren sich in einem städtischen und einem kirchlichen Netzwerk. Welche Rolle spielen bei der Ukrainehilfe beide Kirchen am Ort? Können sie über ihr karitatives Engagement in der gegenwärtigen Vertrauenskrise Boden gut machen? Und warum engagieren Sie persönlich sich schon mehr als 30 Jahre in der Flüchtlingsarbeit?

Münzer: Unsere Kirchengemeinde hat ziemlich schnell regelmäßige Unterstützungsangebote wie gemeinsames Frühstücken, Kochen oder Sporteinheiten initiiert, die beim Andocken an die Gemeinde helfen sollten und auch dankbar angenommen wurden. Bei einem Aufruf gab es aus dem Stand mehr als 30 freiwillige Helferinnen und Helfer aus allen Generationen, die umgehend bereit waren, praktisch mit anzupacken oder sich bei einer Idee den Hut aufzusetzen.

Ginge es nach mir, könnten es immer noch mehr sein, damit sich die Arbeit auf vielen Schultern verteilt. Aber auch so hat sich ein fester Kreis gebildet, in dem übrigens viele mitmachen, die auch selbst ukrainische Flüchtlinge bei sich aufgenommen haben.

Trotzdem erlebe ich, dass es die meisten nicht aus einer christlichen Grundüberzeugung heraus tun, sondern aus einer Haltung der Solidarität, die oft nicht kirchlich begründet ist. Diese große Bereitschaft, Türen zu öffnen, hat mich anfangs sehr überrascht, aber auch überwältigt.

Mein persönlicher Antrieb dagegen war immer mein Glaube. Ich kümmere mich um die, die mich brauchen, und bin für die da, die sonst keinen Fürsprecher haben. Das ist mein Selbstverständnis. Nicht alles, was wir da mit viel Herzblut im Team angehen, gelingt immer. Aber wir geben zumindest schon mal einen Anschub. Und nicht selten werden daraus Jahre später doch noch gelingende und richtig glückliche Lebensentwürfe.

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ist freie Journalistin und ehrenamtlich für die Pfarreiengemeinschaft St. Nikolaus und St. Joseph tätig.

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1 Kommentar

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  1. Zum Interview mit Mechthild Münzer, die ich sehr schätze und aus der ehrenamtlichen Kooperation über Aktion Neue Nachbarn, Gabi Atug-Schmitz sowie über Habitat RBK kenne.

    Weitgehend teile ich ihre Einschätzung, aber z.T. habe ich auch eine andere Sicht, bzw. anderen Erfahrungen: Ich halte es für kritisch, die „Fluchterfahrungen“ von „alten und neuen“ Flüchtlingen zu vergleichen und zu bewerten. Auch wenn die ukrainischen Geflüchteten nicht übers Mittelmeer gekommen sind, so haben sie doch auch z.T. dramatische Odysseen über Land mit Beschuss hinter sich!

    Die andere Geschichte: Klar sind hauptsächlich Kinder traumatisiert, aber ebenso die Mütter, die z.T. ihre Ehemänner und Partner im Kriegseinsatz wissen und darum bangen, dass sie überleben!

    Dann die Sache mit den „angeblich gefälschten“ Impfnachweisen: diese Erfahrung teile ich nicht! Es sind nicht immer die gleichen Impfstoffe wie die unsrigen gewesen und ich maße mir als Laie nicht an, die Echtheit eines Impfpasses zu beurteilen.

    Auf jeden Fall teile ich die Auffassung, dass für die Kinder – vor allem im Schulbetrieb – mehr Begleitung erforderlich ist, das heißt auch, dass hier vor allem die Schulen mit entsprechendem Personal (fachlich qualifiziert) unterstützt werden müssen und nicht mit der ganzen Thematik alleingelassen sind.

    Ich bin in Schildgen im Netzwerk Schildgen-Ukraine aktiv und erlebe auf vielfältige Weise problematische Themen aber vor allem auch immer wieder Menschen, die sich engagieren und ihr Bestmöglichstes geben, um hier zu begleiten.

    Und als „Schlusssatz“, natürlich haben wir die Flüchtlinge aus den Jahren 2015 etc. nicht aus dem Blick verloren, aber wir müssen einfach auch Prioritäten setzen und schauen, wo ist die Not zur Zeit am größten!

    Margret Grunwald-Nonte, Dipl.-Psychologin