Vor fünf Wochen haben wir von der Flucht der Familie Pushkarov aus der Ukraine nach Bergisch Gladbach erzählt. Seither ist viel passiert. Wir haben sie in ihrem Haus in Refrath besucht und uns berichten lassen, wie sich ihr Leben hier entwickelt.
An der Wohnzimmerwand hängt ein Bilderrahmen mit Familienfotos, auf dem Tisch stehen gelbe Tulpen. Im Hintergrund hört man Musik, dann eine Radioansage auf Deutsch. Die Stimmung im Haus der Pushkarovs ist vollkommen anders als vor fünf Wochen.
So lange ist es her, dass wir die Familie das erste Mal besucht haben. Zu dem Zeitpunkt war sie gerade erst in Bergisch Gladbach angekommen. Anna Pushkarov hat, immer wieder unter Tränen, von der tagelangen Flucht aus Kiew erzählt, sie sah immer noch müde aus.
Von Kiew nach Refrath in 104 Stunden
Heute wirkt Anna Pushkarov frisch und gut gelaunt. Sie sagt „hallo“ und trägt dann Kekse, Toastbrote, Schälchen mit Marmelade und einen Pott Kaffee zum Esstisch. Die Sonne scheint durch die Glasfront ins Wohnzimmer. Annas Mutter Ludmila steht vornübergebeugt im Garten und setzt kleine Erdbeer-Pflanzen in einen Streifen Erde, der dreijährige David hüpft um sie herum. Yevhen bittet zu Tisch. Wie ist es der Familie in den letzten fünf Wochen ergangen?
Neue Schule, neue Freund:innen
Sohn Mark, 17 Jahre, besucht seit drei Wochen das Albertus-Magnus-Gymnasium. Da ist er auch zum Zeitpunkt unseres Besuchs: In den Osterferien gibt es dort jeden Tag vier Stunden Deutschunterricht für die Jugendlichen aus der Ukraine. Deshalb erzählt uns sein Vater Yevhen, wie es Mark geht.
Er hat schon viele deutsche Freund:innen gefunden und fühlt sich sehr wohl. Kürzlich fragte er seinen Vater, warum es kein Schule wie das AMG in der Ukraine gebe. Die Lehrer seien wie Freunde und würden ihn unterstützen, wo sie könnten. In der 10. Klasse, die er dort besucht, würden sie allerdings im Mathe-Unterricht gerade durchnehmen, was er in Kiew schon in der 8. Klasse gelernt hatte.
Noch nicht angekommen
Tochter Valeria, 21 Jahre, ist auch gerade unterwegs. Sie tut sich schwerer als ihr Bruder, hier anzukommen. Zwar hat sie schon Leute kennengelernt, spricht mit ihnen aber auf Englisch. Ihr Jura-Studium, das sie in Kiew fast beendet hatte, kann sie in Deutschland nicht fortsetzen, sie müsste wieder ganz von vorne anfangen. Möglicherweise kann sie ein Jahr lang an der Uni Köln Deutsch lernen und sich dann ein paar ihrer Scheine aus Kiew für ein Psychologie-Studium anerkennen lassen.
„Sie ist noch mehr in ihrer Blase als Mark“, sagt Mutter Anna. Sie ist aus ihrem Leben in der Hauptstadt herausgerissen worden, hatte sich gerade erst verlobt. Es fällt ihr schwer anzuerkennen, dass sie jetzt erst einmal hier ist und dass niemand weiß, wann sie zurückkehren kann.
Immerhin ist ihr Verlobter in der Ukraine im Moment in Sicherheit: Er kümmert sich dort um seinen kranken Vater und rechnet nicht damit, in nächster Zeit zum Kampf eingezogen zu werden.

Deutschlernen mit Cartoons
Sohn David, 3 Jahre, ist ein Riesenfan von Paw Patrol. Er guckt die Sendung immer auf Deutsch und wiederholt schon ein paar Wörter, sagt Yevhen. Die Eltern möchten ihn gerne in den Kindergarten geben, damit er die Sprache richtig lernt und sich schnell integriert.
Ablenkung im Garten
Oma Ludmila denkt gerade viel an ihr Grundstück in der Nähe von Kiew. Sie hatte dort auf 1,5 Hektar Kartoffeln, Gurken, Bohnen und vieles mehr angepflanzt. Darum müsste sie sich jetzt kümmern! Anna lacht, als sie das erzählt. Sie geht kurz raus und holt eine Dose Trockenpflaumen. Darin sprießen ein paar zarte Keime. „Gurke“, sagt Anna auf Deutsch.
Auf der Terrasse stehen weitere kleine Gefäße mit frisch gepflanzten Setzlingen. Und dann gibt es noch das Beet im Garten. Anna erzählt grinsend: „Sie hat mit einem schmalen Streifen angefangen. Der wird immer breiter und breiter. Bald kann man nicht mehr draußen Fußball spielen.“
Dann wird sie wieder ernst. Nachdem sich Ludmila den ganzen Tag im Garten beschäftigt hat, muss sie abends immer Nachrichten gucken. Sie weiß, dass ihr das nicht guttut, aber sie kann es einfach nicht lassen. Danach geht sie teilweise weinend ins Bett.

Ehrenamt, Deutschkurs und bald ein Job
Anna arbeitet zusammen mit Valeria ehrenamtlich in einem Lager in Köln, wo Spenden für die Flüchtlinge angenommen und verteilt werden. Sie sagt, die Spendenbereitschaft der Deutschen habe nicht nachgelassen.
Jeden Tag von 17 bis 20 Uhr sind sie dort. Gestern sei eine Oma, über 90 Jahre alt, mit ihrem Rollator vorbeigekommen und habe Waschmittel und selbst gestrickte Socken vorbeigebracht. Anna weint, als sie das erzählt, aber diesmal sind es Tränen der Rührung.
Sie war kurz nach ihrer Ankunft bei einem Treffen von Ukrainerinnen in Köln. Alle fragten nach Papieren, nach Schulplätzen für die Kinder. Sie wusste das schon alles. Als der Organisator des Treffens fragte, wo er noch helfen könnte, fragte sie zurück: Wo kann ich helfen? So kam sie zu dem Job im Spendenlager.
Sie sagt: „Die ersten zwei Wochen war das vor allem eine Ablenkung, eine Beschäftigung für Hirn und Hände. Jetzt ist es eine gewöhnliche Tätigkeit für mich geworden. Keine Selbsttherapie mehr.“

Ansonsten trifft sich Anna mit anderen ukrainisch- oder russischsprachigen Menschen. In eineinhalb Wochen beginnt sie einen Deutschkurs an der Benedict-Schule in Bergisch Gladbach. Sieben Monate geht er, fünf Tage die Woche, vier Stunden am Tag. Das Jobcenter bezahlt den Kurs.
Außerdem könnte es gut sein, dass sie bald schon wieder anfängt als Lehrerin zu arbeiten. Es gibt nämlich aktuell eine große Nachfrage nach ukrainischen Lehrer:innen, auch ohne Deutschkenntnisse, für die ukrainischen Kinder. Sie würde vermutlich an verschiedenen Schulen eingesetzt.
Dafür muss sie aber erst ihr Diplom aus Kiew besorgen und anerkennen lassen. Gerade hat die Familie einem Bekannten den Wohnungsschlüssel übergeben, der demnächst mit einem Transport nach Kiew fährt. Er soll in der Wohnung nach dem Rechten sehen und einige Dokumente herausholen.

Warten auf Arbeit
Yevhen zeigt mir ein Foto auf seinem Handy: Das Hochhaus, in dem ihre Wohnung ist, steht noch. Ein Nachbar, der aufs Land geflüchtet war, ist kürzlich nach Kiew zurückgekehrt. Es sei eine Geisterstadt, ständig heule der Luftalarm. Trotzdem gehen langsam immer mehr Menschen zurück, die innerhalb der Ukraine geflüchtet waren.
Auch der Inhaber der Firma, die Yevhen von hier aus betreuen sollte, ist zurück in Kiew. Er hat die Arbeit wieder aufgenommen. Allerdings gibt es noch nicht viel zu tun. Yevhen hofft, dass das bald besser wird.
In der Zwischenzeit geht er mit David spazieren oder hilft Anna als Dolmetscher, zum Beispiel bei der Einschreibung an der Sprachschule. Er hatte in der Ukraine die deutsche Schule besucht und spricht die Sprache bereits.
Solange noch kein eigenes Geld fließt, bekommt die Familie jetzt immerhin Sozialhilfe. Bei der Tafel ist sie auch schon angemeldet. Yevhen lacht und zeigt auf die gelben Tulpen: „Die sind auch von der Tafel!“

Ich frage nach den Fotos an der Wand. Sie zeigen Anna und Ludmila, Anna und Yevhen, Yevhen mit den Kindern, Anna mit den Kindern. Anna sagt: „Die Fotos sind fast alle hier entstanden. Nur das eine nicht: Das war an Davids drittem Geburtstag. Sechs Tage vor dem Krieg.“
Das Leben in Kiew bleibt ein wichtiger Teil des Alltags, und das wird wohl noch lange so sein. Aber langsam, vorsichtig macht sich auch das Hier und Jetzt breit bei den Pushkarovs. Das Haus wird immer mehr Zuhause. Wir sind gespannt, wie es weitergeht.
Leider kein Wort über die offensichtlich sehr großzügige Gastfamilie (bzw Kommune), die diese Familie ja relativ komfortabel aufgenommen hat.
Wenn man sich die Mühe macht, auf den vorherigen Artikel zurück zu greifen (ist blau markiert) erfährt man schon, wie es zu der Unterbringung im Haus gekommen ist.