Symbolbild: Pexels

„Gerechtigkeit ist für Kinder schon ganz früh ein Thema“, sagt Brigitte Holz-Schöttler. Wir haben mit der ehemaligen Kita-Leiterin und Dozentin in der Ausbildung von Erzieher:innen darüber gesprochen, wo Kinder mit dem Thema in Berührung kommen, wie man ihnen als Eltern dabei helfen kann, Gerechtigkeit zu lernen – und warum das so wichtig ist.

Wenn wir zu Hause zusammen essen, achtet mein zweijähriger Sohn Leo ganz genau darauf, was sich auf unseren Tellern befindet. Entdeckt er bei seinen Eltern etwas, das es bei ihm nicht gibt, zeigt er sofort darauf und sagt sehr bestimmt: „Ich auch!“ Mittlerweile weiß er, dass scharfe Soße „im Mund brennt“, weil er nicht locker ließ, bis er einmal probieren durfte.

Es ist Leo sehr wichtig, gleich behandelt zu werden. Das ist es, was insbesondere kleine Kinder unter Gerechtigkeit verstehen – auch, wenn sie das Wort noch gar nicht kennen.

„Gerechtigkeit ist für Kinder schon ganz früh ein Thema“, sagt Brigitte Holz-Schöttler. Die 68-Jährige hat 46 Jahre in einer Kindertagesstätte gearbeitet, davon 35 Jahre als Leiterin. Seit zehn Jahren hat sie eine eigene pädagogische Praxis, berät Eltern und bildet Erzieher:innen und OGS-Kräfte aus.

Brigitte Holz-Schöttler ist noch in vielen weiteren Bereichen aktiv: Sie ist Vorstandsvorsitzende beim FIB – Familienbildung und Sportverein, Vorsitzende des Kindergartenmuseums NRW, und im Stadtrat setzt sie sich als Mitglied der SPD-Fraktion für Jugend, Integration und Inklusion ein und ist Vorsitzende des Jugendhilfe-Ausschusses. Foto: Thomas Merkenich

Erste Erfahrungen mit Gerechtigkeit

Kinder kommen schon sehr früh in der Familie mit Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in Berührung. Etwa beim Essen. Oder wenn die große Schwester abends länger draußen bleiben darf.

Als Eltern ist es dann wichtig, das zu erklären und zu begründen, zum Beispiel so: „Du bist jünger als deine Schwester, und ich mache mir noch mehr Sorgen um dich. Wenn du so alt bist wie sie, darfst du auch länger draußen bleiben.“

Man kann auch gemeinsam überlegen, was das kleinere Kind als Ausgleich bekommen könnte, um sich gerecht behandelt zu fühlen. Vielleicht eine schöne Aktivität zu Hause, während die große Schwester noch unterwegs ist.

Überhaupt soll man Kinder schon von klein auf einbinden und Dinge mit ihnen aushandeln, sagt Holz-Schöttler. Damit ist nicht gemeint, das Kind alles bestimmen zu lassen: „Kinder wollen einen Rahmen, den die Eltern vorgeben –  aber innerhalb dieses Rahmens sollen sie partizipieren. Je mehr sie das dürfen, desto gerechter und toleranter werden sie.“

Von Gerechtigkeit zu Empathie

Das setzt sich in der Kita fort. „Bei den gemeinsamen Mahlzeiten gucken die Kinder auch hier ganz genau, was die anderen auf dem Teller haben“, sagt Brigitte Holz-Schöttler. Sie schmunzelt und fügt hinzu: „Wenn sie das Gefühl haben, dass es nicht gerecht ist, nehmen sie sich auch schon mal etwas von einem anderen Teller.“

Gleiche Verteilung – kleinen Kindern geht es dabei noch vor allem um ihr eigenes Bedürfnis. Sie wollen selbst gerecht behandelt werden. Später entwickeln sich Empathie und der Wunsch, dass auch andere Gerechtigkeit erfahren.

Laura Geyer im Gespräch mit Brigitte Holz-Schöttler.

Kinder lernen das mit der Zeit, man kann als Erwachsener aber auch dabei helfen, sagt Holz-Schöttler. Wenn in der Kita ein Kind ausgegrenzt wurde und nicht mitspielen durfte, warteten sie und ihre Kolleg:innen zuerst ab, ob die Kinder den Konflikt unter sich ausmachen würden.

Wenn sie doch irgendwann einschritten, fragten sie die Kinder: Wie würdest du dich fühlen, wenn du nicht mitspielen dürftest? Das Hineinversetzen in das andere Kind half bei der Empathiebildung. Und damit machten sie ihnen bewusst, wie sich Ungerechtigkeit anfühlt – denn Gerechtigkeit ist eben auch ein Gefühl.

Gleiche Verteilung für alle

Ein besonders großes Gerechtigkeitsempfinden haben Kinder im Grundschulalter, zwischen 6 und 10 Jahren, sagt Holz-Schöttler. Das bestätigt die Studie „Kinder in Deutschland“ der Organisation World Vision aus dem Jahr 2013: Rund 2600 Kinder zwischen 6 und 11 Jahren wurden darin unter anderem zu Gerechtigkeit befragt. Die Mehrheit von ihnen wollte eine gleiche Verteilung von Gütern und Chancen unter allen Kindern.

„Dass alle genug zu essen haben, alle in Freiheit leben, alle in die Schule gehen können, keine Armut herrscht, dass es nicht so viele Reiche gibt, die nichts abgeben“.

Zitat eines elfjährigen aus der Studie „Kinder in Deutschland“ von World Vision, 2013

In der Anschlussstudie von 2018 ging es um das Schwerpunkt-Thema Flucht. Auch hier zeigte sich: Deutsche Kinder im Grundschulalter sind mehrheitlich mitfühlend und offen geflüchteten Menschen gegenüber. Ein weiteres Ergebnis: Je mehr Kontakt sie mit geflüchteten Menschen hatten, desto positiver war ihre Einstellung.

Gerechtigkeit vorleben

Brigitte Holz-Schöttler sagt: „Kindern in einem Rahmen ohne Erwachsene ist es egal, welche Hautfarbe oder Religion die anderen haben.“ Unterschiede lernen sie vor allem von Erwachsenen – durchs Zuhören und durchs Spüren ihrer Haltung.

Deshalb ist es wichtig, für sich als Eltern selbst zu definieren, was Gerechtigkeit bedeutet, und dies den Kindern vorzuleben. Authentisch, denn das eine zu sagen, aber das andere zu denken, reicht nicht. „Da kommen wir als Erwachsene selbst oft an unsere Grenzen“, sagt Holz-Schöttler: „Jeder hat Vorurteile und Ungerechtigkeiten im Kopf. Man muss sich immer wieder selbst hinterfragen.“

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Kinderrechte ins Grundgesetz

So steht es schließlich schon im Grundgesetz – und auch in den Kinderrechten. Dort heißt es in Artikel 2, dass alle Kinder die gleichen Rechte haben, „unabhängig von der Rasse, der Hautfarbe, dem Geschlecht, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen, ethnischen oder sozialen Herkunft, des Vermögens, einer Behinderung, der Geburt oder des sonstigen Status des Kindes, seiner Eltern oder seines Vormunds.“

Brigitte Holz-Schöttler hofft, dass die Kinderrechte dieses oder nächstes Jahr endlich im Grundgesetz verankert werden. Denn gerade Kinder, die erst lernen, was Gerechtigkeit bedeutet, werden von Erwachsenen in so vieler Hinsicht ungerecht behandelt: Sie haben keine Lobby, kein Wahlrecht, werden nicht ernst genommen oder sogar ausgebeutet.

Gerade deshalb müssen wir Erwachsenen dafür kämpfen, dass die Rechte unserer Kinder ernst genommen werden. Das Recht ist das Werkzeug, mit dem Gerechtigkeit in der Gesellschaft umgesetzt werden soll. Und für Kinder ist es enorm wichtig, Gerechtigkeit zu erfahren: „Ungerechte Behandlung sorgt bei Kindern für Minderwertigkeitsgefühle“, sagt Holz-Schöttler. Gerechtigkeit wiederum ist ein starker Motor für Widerstandsfähigkeit.

ist freie Reporterin des Bürgerportals. Geboren 1984, aufgewachsen in Odenthal und Schildgen. Studium in Tübingen, Volontariat in Heidelberg. Nach einem Jahr als freie Korrespondentin in Rio de Janeiro glücklich zurück in Schildgen.

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