Die Nelson-Mandela-Gesamtschule ist Preisträgerin des Deutschen Schulpreises 2023. Foto: Nelson-Mandela-Gesamtschule

Frederike Flinspach arbeitet beim Schulpsychologischen Dienst des Rheinisch-Bergischen Kreises. Gerade erst hat sie einen Online-Vortrag zur Wahl der weiterführenden Schule angeboten, zu dem sich 200 Eltern angemeldet hatten. Im Interview erklärt sie, was die einzelnen Schulformen ausmachen, warum die Entscheidung für eine von ihnen noch lange nicht über den beruflichen Weg des Kindes bestimmt und wie verlässlich die Empfehlung der Grundschule ist.

Frau Flinspach, wer Kinder in der vierten Klasse hat, steht aktuell vor der Wahl der weiterführenden Schule. Wie stark beschäftigt das Thema Eltern?
Frederike Flinspach: Ich habe den Eindruck, dass das Thema aktuell viele Eltern beschäftigt und sich einige mit der Entscheidung auch unter Druck setzen. Sie glauben, dass sie damit praktisch schon den beruflichen Weg des Kindes ebnen.

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Mein Anliegen ist es, Eltern hier zu entlasten: Es geht erst einmal darum, eine Schulform zu finden, wo das Kind nächstes Jahr gut ankommen und Erfolgserlebnisse sammeln kann. Darauf kann man später immer noch aufbauen. Eltern sollten weniger auf den Schulabschluss schauen und mehr darauf, was jetzt zum Kind passt.

Nun werden sicher einige Eltern sagen: Wir haben beide studiert, das Kind muss es doch auch aufs Gymnasium schaffen. Oder: Ohne Abi hat man keine Chance auf dem Arbeitsmarkt.
Eltern wollen natürlich das Beste für ihr Kind – bei der Schulwahl ist das für viele der höchste Abschluss. Allerdings haben Kinder theoretisch in jeder Schulform die Möglichkeit, die Qualifikation zu erreichen, um das Abitur zu machen.

Es gibt ein afrikanisches Sprichwort: Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Man bringt Kinder nicht zum besten Abschluss, wenn man sie den höchsten Leistungsansprüchen aussetzt. Die besten Chancen hat man, wenn man die für das Kind passende Schule findet, auf der es sich als kompetent und erfolgreich erleben kann.

Man sollte keine Schulform ausschließen, nur weil man Schlechtes darüber gehört hat

Viele Eltern schließen von vornherein bestimmte Schularten aus, teilweise aufgrund von Vorurteilen. Was raten Sie diesen?
Man sollte keine Schulform ausschließen, nur weil man Schlechtes darüber gehört hat, sondern sich einen eigenen Eindruck bilden. Ich rate dazu, aktiv auf Infoveranstaltungen zu gehen, konkrete Fragen zu stellen, mit Lehrkräften und anderen Eltern in Austausch zu gehen.

Kinder sind unterschiedlich, und das ist gut so. Es ist wichtig, ehrlich aufs eigene Kind zu schauen: Was sind seine Stärken, was seine Schwächen? Und dann zu gucken, was passt. Jede einzelne Schulform hat ein eigenes Konzept, bietet unterschiedliche Anforderungen und unterschiedliche Hilfen. Das lässt sich nicht auf leicht – mittelschwer – schwer reduzieren.

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Weiterführende Schulen stellen sich vor

Für die Eltern von Schülerinnen und Schülern in der 4. Klasse stehen im Winter wichtige Termine an. In den kommenden Wochen stellen sich die weiterführenden Schulen vor, bei Informationsabenden und Tagen der Offenen Tür. Ab Januar folgen die eigentlichen Anmeldetermine der fünf Gymnasien, der vier Realschulen, einer Hauptschule und der zwei Gesamtschulen.

Welche Schulform passt denn zu welchem Typ Kind?
Das Gymnasium erfordert zum Beispiel ein hohes Maß an selbstständigem Lernen. Wenn das schon in der Grundschule sehr schwierig ist, sollte man sich gut überlegen, ob das Gymnasium die passende Schulform ist, auch wenn das Kind intellektuell fit ist. Das heißt ja nicht, dass es nicht später noch das Abitur schaffen kann.

Die Realschule liefert den Lernstoff in kleineren Einheiten. Übungen und Wiederholungen sind fest eingeplant. Das kann manche Kinder einengen, anderen bietet es Orientierung und Sicherheit.

Die Hauptschule ist sehr praxisnah, hier wird Berufsvorbereitung gelebt. Der Klassenlehrer oder die Klassenlehrerin ist nah dran an den Kindern, verbringt viele Stunden mit ihnen. Einige Kinder brauchen das.

Das Schulzentrum im Kleefeld beherbergt eine Realschule und eine Hauptschule. Foto: Thomas Merkenich

Und die Gesamtschule?
Sie ist erstmal eine Schule für alle, wie es die Kinder aus der Grundschule kennen. Das ist für viele Eltern entlastend, die Entscheidung über den weiteren Weg wird in die Zukunft verlagert. Das Kind kann erst einmal gucken, wo seine Stärken und Schwierigkeiten liegen.

Gesamtschulen haben aber auch traditionell ein Ganztagskonzept. Und Gesamtschulen sind in der Regel groß. Damit kommen nicht alle Kinder zurecht.

Je spezieller das Angebot ist, das man für sein Kind auswählt, desto mehr legt man sich damit fest

Was ist mit speziellen Angeboten wie Waldorfschulen?
Kinder sind unterschiedlich – da soll es auch besondere Angebote geben. Ich gebe nur zu bedenken: Je spezieller das Angebot ist, das man für sein Kind auswählt, desto mehr legt man sich damit fest. Das gilt auch für andere Entscheidungen wie Latein als erste Fremdsprache am Gymnasium.

Wenn man womöglich im Lauf der Schulzeit umzieht, kann es schwierig werden, erneut ein passendes Angebot für das Kind zu finden. Auch ein späterer Wechsel in eine andere Schulform kann in solchen Fällen erschwert sein. Daher sollte man sich, wenn man ein spezielles Angebot in Erwägung zieht, ganz besonders über die Schule informieren, um herauszufinden, ob es wirklich das Richtige für das eigene Kind ist.

Wie verlässlich ist denn die Empfehlung der Grundschule?
Grundschullehrkräfte haben die Fachexpertise, im Optimalfall haben sie das Kind bis zu diesem Zeitpunkt dreieinhalb Jahre erlebt und beobachtet. Sie haben in der Regel auch die Haltung, die ich eingangs beschrieben hatte: Sie schauen in erster Linie darauf, wo das Kind im nächsten Schuljahr gut andocken kann, mit den Voraussetzungen und Unterstützungs-Bedarfen, die es aktuell mitbringt.

Insofern fußt die Empfehlung schon auf einem soliden Fundament. Bindend ist sie aber nicht. Die Entscheidung können und müssen die Eltern treffen.

Symbolbild: Pixabay

Was ist bei Förderbedarf?
Das ist ein weites Spektrum, von Schwierigkeiten beim Lesen und Rechtschreiben bis hin zu sonderpädagogischem Förderbedarf. Generell ist es wichtig, sich frühzeitig über die Unterstützungsmöglichkeiten der Schulen zu informieren.

Dazu kann man sich vorab den Internetauftritt anschauen, dann mit Schulen den Austausch suchen. Informationsveranstaltungen besuchen und mit anderen Familien in Kontakt gehen, die schon Kinder dort haben.

Und wie sieht es bei besonderen Talenten aus?
Auch hier erfragt man am besten direkt bei den Schulen, die in Frage kommen, was sie an AGs bereithalten, oder ob sie etwa im naturwissenschaftlichen Bereich besondere Projekte anbieten.

Was ist, wenn das Kind zum Beispiel ein Mathe-Ass ist, aber mit Sprachen nicht klarkommt?
Das ist eine Frage, die man nicht so allgemein beantworten kann, da es sehr auf das individuelle Kind und sein Lern- und Arbeitsverhalten ankommt. Zudem muss man schauen, wo genau die Schwierigkeiten liegen. Insgesamt kann man sagen, dass das Gymnasium eine sehr „sprachlastige“ Schulform ist, an der beispielsweise viel Textarbeit stattfindet und Sprachverständnis gefordert wird. Zudem kommt man auch an mindestens  zwei Fremdsprachen nicht vorbei.

Generell gilt: Wenn mehrere Bedenken in Bezug auf eine Schulform zusammenkommen, würde ich immer dazu raten, erst einmal die mit dem etwas geringeren Leistungsanspruch zu wählen. Der Weg nach „oben“ ist für das Selbstwertgefühl eines Kindes deutlich besser.

Mir geht es darum, Eltern zu entlasten, die denken, es gibt nie mehr die Chance auf einen anderen Weg

Also kann man sich entspannen und sagen, fangen wir mal hier an und schauen, wie es weitergeht?
Eine starke Wechselbiografie sollte man schon vermeiden. Es ist schön für ein Kind, wenn es mit seiner Klasse den gesamten Weg durchlaufen kann. Mir geht es vor allem darum, Eltern zu entlasten, die denken, es gibt nie mehr die Chance auf einen anderen Weg.

Es ist definitiv besser für ein Kind, sich an der Realschule als erfolgreich zu erleben und vielleicht später ans Gymnasium zu wechseln, als am Gymnasium einzusteigen und dort zu scheitern.

Wenn man sich nun für eine Schulform entschieden hat, geht es im besten Fall an die Wahl der konkreten Schule – wenn es mehrere zu Auswahl gibt. Wie wichtig ist dabei die Nähe zum Wohnort?
Es ist schon wichtig zu schauen, wie das Kind den Schulweg auf eigenen Füßen schaffen kann. Als autofahrender Erwachsener denkt man, das sind ja nur ein paar Kilometer. Kinder sollten aber nicht immer von ihren Eltern gefahren werden müssen. Es ist wichtig für die Autonomieentwicklung, das selbst stemmen zu können.

Hinzu kommt, dass sich in der Schule Freundschaften bilden, Verabredungen getroffen werden. Wenn man dann weit auseinanderwohnt, wird es schwierig.

Bei der Wahl der konkreten Schule sollte man das Kind mit einbinden

Was ist, wenn das Kind auf die gleiche Schule gehen möchte wie die Freund:innen aus der Grundschule?
Das kann ein Kriterium bei der konkreten Schule sein, aber bitte nicht bei der Schulform!

Inwieweit sollten Kinder überhaupt bei der Entscheidung eingebunden werden?
Die Entscheidung über die Schulform müssen Eltern für ihr Kind treffen. Bei der Wahl der konkreten Schule sollte man das Kind mit einbinden. Da können dann Aspekte wie die Freunde oder AGs eine Rolle spielen.

Kinder können und sollen auch mit zu den Informationsveranstaltungen der Schulen gehen. Als Eltern kann man dann gucken, wie das Kind sich in den unterschiedlichen Schulen bewegt. Ist es ganz frei, lebendig, macht mit? Oder sagt es nach kurzer Zeit schon, Mama, Papa, wir können gehen?

Wenn man trotz allem Schwierigkeiten hat, eine Entscheidung zu treffen – wo kann man sich dann hinwenden?
Dafür stehen wir vom Schulpsychologischen Dienst bereit. Wir sind eine neutrale Stelle, und wir bieten einen Raum, in dem man ehrlich gemeinsam auf das Kind schaut. Auch wir nehmen Eltern die Entscheidung nicht ab, aber wir geben ihnen vielleicht neue Sichtweisen an die Hand.

ist freie Reporterin des Bürgerportals. Geboren 1984, aufgewachsen in Odenthal und Schildgen. Studium in Tübingen, Volontariat in Heidelberg. Nach einem Jahr als freie Korrespondentin in Rio de Janeiro glücklich zurück in Schildgen.

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