Der Journalist Julian Reichelt hatte in einem Tweet die Bundesregierung scharf angegriffen, die mit einer Abmahnung reagierte. Das Bundesverfassungsgericht wertet die Aussage als zulässige Meinungsäußerung und gab Reichelt Recht – mit Auswirkungen auf die Prozesstaktik in künftigen Eilverfahren.

Von Constantin Martinsdorf

Julian Reichelt, ehemaliger Chefredakteur der Bild-Zeitung, der aktuell für das Medienportal NiUs tätig ist, sorgte Ende 2023 mit einem kontroversen Tweet für Aufsehen, in dem er der Bundesregierung vorwarf, Entwicklungsgelder „an die Taliban“ zu zahlen. In dem Tweet erklärte er:

„Deutschland zahlte in den letzten zwei Jahren 370 MILLIONEN EURO (!!!) Entwicklungshilfe an die TALIBAN (!!!!!!). Wir leben im Irrenhaus, in einem absoluten, kompletten, totalen, historisch einzigartigen Irrenhaus. Was ist das nur für eine Regierung?!“.

Diese Aussage führte zu einer rechtlichen Auseinandersetzung über die Zulässigkeit von Meinungsäußerungen in den sozialen Medien. Das Kammergericht (KG) in Berlin hatte zunächst die Aussage als unwahre Tatsachenbehauptung eingestuft, da die Entwicklungsgelder nicht direkt an das Taliban-Regime flossen, sondern an sog. Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in Afghanistan. Die Behauptung Reichelts sei daher also unwahr und zu unterlassen.

Das Urteil des Kammergerichts wurde jetzt jedoch vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) aufgehoben.

„Kritik am System ist Teil des Grundrechtestaats“

Die Richter des BVerfG (Beschluss v. 11.04.2024. Az. 1 BvR 2290/23) argumentieren, dass dem Staat kein grundrechtlich fundierter Ehrenschutz zukommt, denn „die Zulässigkeit von Kritik am System ist Teil des Grundrechtestaats“. Der Staat hat danach grundsätzlich auch scharfe und polemische Kritik auszuhalten.

Zudem habe das Kammergericht den Kontext des Tweets nicht ausreichend berücksichtigt. Die Aussage Reichelts sei noch als zulässige Meinungsäußerung zu verstehen.

Das BVerfG hob dabei insbesondere hervor, dass der Tweet von Reichelt im Zusammenhang mit einem Artikel stand, der die Entwicklungshilfe für Afghanistan thematisierte. Dieser Artikel war in der Vorschau des Tweets verlinkt und trug die Überschrift: „Deutschland zahlt wieder Entwicklungshilfe für Afghanistan.“

Die Karlsruher Richter beanstanden, dass das Kammergericht diesen Kontext nicht angemessen berücksichtigt hatte. Das Berliner Landgericht (LG) hatte bereits in der ersten Instanz des Verfügungsverfahrens hierauf abgestellt. Es argumentierte, dass das verständige Durchschnittspublikum Reichelts Tweet im Zusammenhang mit der Schlagzeile nur als überspitzte Kritik – also als Meinungsäußerung – verstehen könne, nicht als von der NiUS-Schlagzeile abweichende unwahre Tatsachenbehauptung.

Im Gegensatz dazu stellte das Kammergericht bei seiner Entscheidung auf den zweiten Teil des Posts ab, in dem Reichelt seine Empörung über die Außen- und Entwicklungspolitik der Bundesregierung artikulierte. Es argumentierte, dass die Bezeichnung Deutschlands als „historisch einzigartiges Irrenhaus“ eine derart heftige Bewertung sei, die nur dann ansatzweise gerechtfertigt sei, wenn die Regierung tatsächlich Geld an die Taliban überweisen würde. Der Durchschnittsleser könne den ersten Teil des Tweets nur so verstehen, dass Reichelt meine, die Regierung überweise Geld direkt die Terrororganisation.

Dass dem Staat kein grundrechtlich fundierter Ehrenschutz zukommt und das Äußerungen stets in dem Zusammenhang zu beurteilen sind, in dem sie sind gefallen sind und nicht aus dem sie betreffenden Kontext herausgelöst und dann einer rein isolierten Betrachtung zugeführt werden dürfen, ist eigentlich nichts Neues. Das BVerfG hatte dies in der Vergangenheit wiederholt so entschieden und auch der BGH hatte beispielsweise im Jahr 2014 schon entsprechend – unter Berufung auf das BVerfG  – entschieden (Urteil v. 27.05.2014, Az. VI ZR 153/13).

Erstaunliches Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts

Dass das BVerfG diesen Grundsatz jetzt noch einmal klarstellen musste ist durchaus erstaunlich. Erstaunlich ist aber auch, dass das BVerfG die Verfassungsbeschwerde Reichelts überhaupt zugelassen hat, denn üblicherweise ist vor Anrufung des BVerfG erst der Rechtsweg auszuschöpfen – das hätte für Reichelt bedeutet, dass im Eilverfahren das Landgericht und dann wieder das Kammergericht und im Hauptsacheverfahren der BGH hätte entscheiden müsse, nicht das BVerfG.

Das BVerfG argumentiert nun jedoch, dass Reichelt unmittelbar Verfassungsbeschwerde erheben durfte, da die Anrufung der Fachgerichte (also z.B. des BGH) „ohnehin aussichtlos“ gewesen wäre.

Die Entscheidung des BVerfG dürfte die Prozesstaktik in solchen oder ähnlichen Eilverfahren erheblich verändern und den Karlsruher Richterinnen und Richtern zudem künftig deutlich mehr Arbeit bescheren.

Constantin Martinsdorf

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2 Kommentare

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  1. Die Prämisse, „dass dem Staat kein grundrechtlich fundierter Ehrenschutz zukommt“, halte ich für falsch (lässt sich aber aus dem Grundgesetz ableiten – das GG hat dort eine Schwäche!). Der Staat und seine Organe sind das Fundament, auf dem unser individueller Grundrechtsschutz aufbaut. Ohne die Gerichte bspw. kann sich keiner von uns gegen falsches Staatshandeln wehren.
    Im konkreten Fall ging es aber gar nicht um den Staat – hier genauer: die Bundesregierung – als Institution. Hier wurde ein einzelnes Handeln – mE: überzogen – kritisiert. Kritik am Einzelhandlungen muss möglich sein. Soweit stimme ich der Entscheidung zu. Ich sehe in der Bezeichnung „Irrenhaus“ aber eine Übertreibung, die weit über Kritik hinaus eine Wertung darstellt, die die individuellen Grundrechte der handelnden Minister „Würde des Menschen“ verletzt – und deshalb falsch ist. Zudem wird nicht die Motivation der Handelnden – in casu wohl die mittelbare Unterstützung von Frauen in Afghanistan (ggfs. von Afghanen, die wegen ihrer Unterstützung der Bundeswehr vor deren Abzug in Bedrängnis gekommen sind) – mit berücksichtigt.
    Gut, dass das BVerfG wenigstens nicht durchentschieden hat, sondern den Fall zur Endentscheidung an as Berliner Kammergericht zurücküberwiesen hat

  2. „Die Entscheidung des BVerfG dürfte die Prozesstaktik in solchen oder ähnlichen Eilverfahren erheblich verändern und den Karlsruher Richterinnen und Richtern zudem künftig deutlich mehr Arbeit bescheren.“

    Das sollte nicht zum Problem des Klägers werden.