Nataliia und Kateryna. Katerynas Tochter wollte nicht mit aufs Bild. Foto: Thomas Merkenich

Nataliia, Kateryna und Katerynas zwölfjährige Tochter sind vor 20 Monaten aus der Ukraine geflohen. Jetzt haben sie endlich eine eigene Wohnung in Schildgen gefunden. Dort erzählen die Schwestern, wie schwierig es ist, sich auf das Leben in Deutschland einzulassen, ohne die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr aufzugeben; warum Nataliia mit 22 Jahren schon pensionierte Profi-Athletin ist; und weshalb sie noch nicht so recht wissen, wie si18Weihnachten feiern.

Schon durchs Fenster sehe ich ihn, den großen Weihnachtsbaum. Bis knapp unter die Decke reicht er, geschmückt mit einer Lichterkette, kleinen Sternen und kupferfarbenen Kugeln. Er verbreitet festliche Stimmung in dem noch eher karg eingerichteten Wohnzimmer von Kateryna und Nataliia, die ihren Nachnamen lieber nicht nennen wollen.

Erst seit Anfang November wohnen die beiden Schwestern zusammen mit Katerynas zwölfjähriger Tochter in der Wohnung im Hinterhof eines Schildgener Mehrfamilienhauses. Im März 2022 waren sie aus ihrer Heimatstadt Nikolaev im Süden der Ukraine geflohen, weil die Frontlinie immer näher heranrückte.

Die Flucht nach Bergisch Gladbach

Mithilfe des Roten Kreuzes waren sie in Evakuierungsbussen nach Odessa gelangt, in Evakuierungszügen nach Lviv. Von dort gingen Busse nach Polen.

Zuletzt nahmen Nataliia, Kateryna und ihre Tochter ein Flugzeug nach Frankfurt – allerdings nicht, wie sie dachten, in die Stadt am Main. Sie landeten in Frankfurt-Hahn und wurden, ziemlich verloren, von einer russischsprachigen Frau aufgelesen. Weil niemand so richtig weiterwusste, schaltete diese die Polizei ein.

Kateryna gab an, gerne nach Bergisch Gladbach zu wollen, weil eine Studienkollegin von ihr bereits vor Ort war. Und so gelangte die Familie im Juni 2022 nach Bergisch Gladbach.

Hier haben wir Ruhe. Einfach Ruhe.

Nataliia

Die ersten drei Monate verbrachten sie in der Notunterkunft in der Hermann-Löns-Straße. Dann wurden sie in ein Wohnheim verlegt, ein ehemaliges Bürogebäude, das die Stadt angemietet hatte. Dort teilten sie sich ein Zimmer, es gab eine Küche und drei Bäder für insgesamt 30 Bewohner:innen.

Als die Organisation Habitat for Humanity letzten Monat die Wohnung in Schildgen fand, zogen die Schwestern sofort um – der Vermieter half ihnen, obwohl es ein Sonntag war.

„Hier haben wir Ruhe. Einfach Ruhe“, sagt Nataliia.

Die Ruhe brauchen sie, alleine schon, um zu lernen. Katerynas Tochter besucht die Nelson-Mandela-Gesamtschule, die beiden Schwestern lernen Deutsch. Beide haben den B1-Kurs abgeschlossen, allerdings an unterschiedlichen Schulen.

Die jüngere Schwester: Nataliia

Nataliia kann sich schon ganz gut verständigen, sie hat in Köln einen Kurs extra für junge Menschen besucht. Sie ist 22, elf Jahre jünger als ihre Schwester.

Im Interview antwortet sie häufig selbst auf Deutsch, wenn es zu komplex wird, hilft eine ehrenamtliche Übersetzerin.

„Man muss sich erst einmal entscheiden, zumindest für eine gewisse Zeit in Deutschland zu bleiben.“

Ehrenamtliche Übersetzerin

Diese sagt: Beide Schwestern hätten anfangs, wie sehr viele Ukrainer:innen, einen großen Widerstand dagegen gehabt, die Sprache zu lernen. „Man muss sich erst einmal entscheiden, zumindest für eine gewisse Zeit in Deutschland zu bleiben,“ erläutert sie.

Nataliia hatte den Punkt nach etwa vier Monaten erreicht. Sie sagt: „Dieser Krieg geht nicht zu Ende.“

Demnächst beginnt sie nicht nur den B2-Kurs, sondern auch einen Minijob als Übungsleiterin in einer Praxis für Physiotherapie.

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Mit 22 Jahren schon pensionierte Profi-Sportlerin

In der Ukraine hat Nataliia bereits an einer Sportfachhochschule unterrichtet und Kinder in Karate trainiert, während sie selbst an der Uni Profi- und Olympischen Sport studierte.

Nataliia ist nämlich mit ihren gerade einmal 22 Jahren schon pensionierte Profi-Sportlerin: 2015 und 2016 war sie ukrainische Karate-Meisterin, 2017 und 2018 gewann sie verschiedene Medaillen für ihr Land.

In diese Karriere war sie ganz zufällig hineingerutscht: Sie war noch ein Kind, als ihre Mutter an einer Karate-Schule vorbeilief, spontan hineinging und fragte, ob sie auch Mädchen nehmen würden.

Ich war bereit, in der Sporthalle zu leben.

Nataliia

Und wie wurde sie so erfolgreich? „Ich war bereit, in der Sporthalle zu leben“, sagt Nataliia und lacht. Erst trainierte sie dreimal pro Woche, irgendwann sechsmal, vor und nach der Schule.

Als das Studium begann, wurde ihr das zu viel, und sie verlegte sich aufs Unterrichten.

Kateryna und Nataliia im noch karg möblierten Wohnzimmer ihrer neuen Wohnung. Foto: Thomas Merkenich

Die ältere Schwester: Kateryna 

Kateryna hatte in Nikolaev als Chemikerin im Wasserwerk gearbeitet. Sie wünscht sich sehr, auch hier sobald wie möglich eine Arbeit zu finden, um keine Sozialleistungen mehr beziehen zu müssen. Allerdings hatte sie weniger Glück mit ihrer Sprachschule. „Der Kurs hat mir nicht viel gebracht“, sagt sie mithilfe der Übersetzerin.

Immerhin, sagt sie auch, werde ihr nicht langweilig: Der Alltag dauert länger, wenn man die Sprache nicht kann. Alles muss geplant, Hilfe angefragt werden. Anstatt schnell irgendwo anzurufen, muss man eigentlich immer persönlich vorbeigehen. Mit Übersetzer natürlich. „Man fühlt sich wie ein Kleinkind.“

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Und dann hat Kateryna ja auch noch ihre Tochter. Deren Vater ist russischer Staatsbürger. Schon ihr normales Familienleben in der Ukraine war chaotisch: Katerynas Mann lebte abwechselnd zwei Monate bei ihnen und zwei Monate in Russland – sonst bekam er kein neues Visum. Über viele Jahre.

Abgeschottet in Russland

Als der Krieg in der Ukraine begann, war er gerade in Russland. Im März sollte er endlich eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten und bei seiner Familie bleiben. Aber die Ausstellung von Visa wurde mit Kriegsbeginn gestoppt.

Nun lebt er abgeschottet in Russland, arbeitet von zu Hause aus. Kateryna überlegt, einen Antrag auf Familienzusammenführung zu stellen. Doch auch hier gilt: Um diesen Prozess zu starten, sollte man sicher sein, dass man ihn zu Ende bringen will. Sprich: dass man zumindest für eine gewisse Zeit in Deutschland bleiben möchte.

Das bedeutet eben auch, zumindest ein Stück weit die Hoffnung aufzugeben, dass der Krieg in ihrer Heimat endet.

Stattdessen leben Kateryna und Nataliia von einem Monat zum nächsten. Versuchen, sich auf das Leben hier einzulassen und gleichzeitig die Hoffnung zu wahren, dass sie irgendwann zurückgehen können.

Weihnachten in Schildgen

Auch ans Weihnachtsfest denken die Schwestern noch gar nicht so richtig, denn eigentlich liegt dieses erst im nächsten Monat: In der Ukraine wurde nach dem julianischen Kalender am 6. und 7. Januar Weihnachten gefeiert.

Bis dieses Jahr, denn um sich von der russischen orthodoxen Kirche abzugrenzen, wurde das Fest per Gesetz auf den 25. Dezember verlegt, in Orientierung am gregorianischen Kalender, dem auch die Kirche in Deutschland folgt.

Es ist schwer, in einem Jahr alles zu wechseln.

Nataliia

Kateryna und Nataliia wissen noch nicht so recht, was sie davon halten und wann sie feiern sollen: „Es ist schwer, in einem Jahr alles zu wechseln“, findet Nataliia.

Immerhin einen Baum haben sie schon mal besorgt. Sie haben ihn zu Fuß von der Kirche im Ortskern nach Hause getragen. Der Verkäufer hatte ihnen noch „viel Glück“ gewünscht, erzählt Nataliia grinsend.

Kateryna strahlt, als ich frage, ob der Baum auch in der Ukraine Tradition sei: „Daaaa!“ Allerdings sei er dort viel mehr und viel bunter geschmückt.

Zwölf Speisen, Verkleidungen und Gedichte

Aber es ist eben nur ein halbes Weihnachten, wenn die Hälfte der Familie nicht dabei ist. Deshalb wissen die Schwestern auch noch nicht, wie sie es mit den anderen Traditionen handhaben werden.

In der Ukraine gab es immer zwölf feste Speisen, allesamt Fastengerichte ohne Mehl, Eier und Butter. Außerdem ein typisches süßes Hefebrot namens Kolach, das der deutschen Neujahrsbrezel sehr ähnlich ist. Man sang zusammen und streute Weizenkorn als Glücksbringer.

Die Kinder verkleideten sich mit bäuerlichen Trachten oder Tierkostümen, gingen von Haus zu Haus, sagten Gedichte auf und bekamen dafür Süßigkeiten. Geschenke erhielten sie auch, aber nur von ihren Pat:innen.

Neujahr am 14. Januar

Noch wichtiger als Weihnachten ist in der Ukraine aber das Neujahrsfest am 14. Januar. Dann versammelte sich jedes Jahr eine große Gruppe von Freunden und Freundinnen bei Kateryna und Nataliia zu Hause, die Kinder bekamen noch mehr Geschenke, und man feierte ausgelassen zusammen.

Kateryna hat Tränen in den Augen, als sie das erzählt. Die Geselligkeit fehlt ihr. Mal sehen, was, wann und wie die Familie feiern wird. Katerynas Tochter immerhin wünscht sich ein Weihnachtsfest in ihrem neuen Zuhause.

ist freie Reporterin des Bürgerportals. Geboren 1984, aufgewachsen in Odenthal und Schildgen. Studium in Tübingen, Volontariat in Heidelberg. Nach einem Jahr als freie Korrespondentin in Rio de Janeiro glücklich zurück in Schildgen.

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