Kristina Menninghaus ist Therapeutin für Kinder und Jugendliche. Foto: Thomas Merkenich

Bindung ist ein Grundbedürfnis, wie Essen oder Schlaf. Diese Erkenntnis hat sie sich bis heute nicht flächendeckend durchgesetzt – vermutlich, weil die Nazi-Pädagogik von Johanna Haarer über die Generationen hinweg bis heute nachhallt. Kinder- und Jugendlichentherapeutin Kristina Menninghaus erklärt, was Bindung eigentlich genau bedeutet, wie sie entsteht – und warum es so wichtig ist, die eigenen Erfahrungen als Kind zu reflektieren, um keine schädlichen Muster weiterzugeben.

Bindung ist ein Wort mit vielen Bedeutungen: Ein Buch wird gebunden, ein Skischuh hat eine Bindung, das Eindicken einer Flüssigkeit beim Kochen wird als Binden bezeichnet. Bei der Vertragsbindung halten sich zwei Parteien an die Vereinbarungen und Regeln.

Bei all diesen Dingen geht es darum, dass sich zwei oder mehr Teile miteinander verbinden und dann dauerhaft zusammenhalten. In der Psychologie geht es im Grunde genommen um etwas Ähnliches, nur auf emotionaler Ebene: Es geht um die gefühlsmäßige Verbundenheit zwischen zwei (oder mehr) Personen, zwischen einem Liebespaar, Geschwistern oder zwischen den Bezugspersonen und dem Kind.

Dieser Text ist zuerst im Newsletter „GL Familie“ von Laura Geyer erschienen.

Bindung spüren wir in unserem Herzen. Wir spüren sie vor allem dann, wenn wir uns mit der Person, die wir mögen, streiten, oder wenn diese auf eine Reise geht. Wir spüren einen Teil des anderen Menschen in unserem Herzen, er ist ein Teil unseres Selbst geworden.

Wir spüren das Vorhandensein des anderen, ohne dass er da ist, und das löst etwas in uns aus. Es kann uns z.B. traurig machen oder auch beruhigen. In der Psychologie nennen wir dieses Phänomen „Internalisierung von Bindung“.

Bindung als Grundbedürfnis

Säuglingen fehlt bei der Geburt die Internalisierung von Bindung. Sie sind sehr abhängige Wesen, die auf die liebevolle und feinfühlige Versorgung durch ihre Bezugspersonen angewiesen sind.

Dass die Bezugspersonen dieser verantwortungsvollen Aufgabe nachkommen, ist glücklicherweise von der Natur eingerichtet worden. So wird bei der Geburt und beim Stillen das sogenannte Bindungshormon Oxytocin ausgeschüttet.

Zwischen Vater oder Adoptiv- oder Pflege-Elternteil und Säugling kann aber eine ebenso enge Bindung etabliert werden, wenn ausreichend Kontakt besteht.

Die Bindungstheorie, welche seit den 1940er Jahren wichtige Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie und Bindungsforschung zusammenfasst, belegt, dass Menschen das angeborene Bedürfnis haben, eine enge und dauerhafte Bindung zu ihren Mitmenschen aufzubauen.

Eine emotional stabile Bindung ist demnach ein Grundbedürfnis; das heißt, sie ist ebenso wichtig wie das Bedürfnis nach Nahrung oder das Bedürfnis nach Schlaf.

Die Harlow-Experimente

Beeindruckend – aber ethisch durchaus zu kritisieren – konnten das die Harlow-Experimente belegen. Das Bindungsforscher-Paar hat in den 1950er-Jahren Versuche mit Rhesusaffen-Jungtieren durchgeführt:

Sie stellten den Jungtieren zwei Attrappen zur Verfügung, die ihnen die Milchflaschen reichten: eine „Ersatzmutter“ in Form eines Drahtgestells und eine „Ersatzmutter“, ebenfalls in Form eines Drahtgestells, aber mit Fell überzogen. Die jungen Rhesusaffen kuschelten sich nur an die mit Stoff überzogenen Attrappe und versuchten stets Kontakt zu ihr zu halten, währen sie von der Milchflasche tranken.

In weiteren isolierten die Forscher die Rhesusaffen unterschiedlich lang und stark. Dabei beobachteten sie, dass die Jungtiere starke Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsstörungen zeigten, je stärker und länger sie isoliert wurden.

Hierin zeigt sich, dass das Bedürfnis nach Nähe für die Entwicklung elementar ist. Auf Basis dieser neuen Erkenntnisse – in einer Zeit, in der noch ganz andere Überzeugungen galten – konnte sich die Bindungstheorie weiter ausdifferenzieren und verfeinern.

Wie sich Bindung entwickelt

Mittlerweile weiß man, dass Kinder, die emotional stark vernachlässigt werden, schwere Schäden in ihrer Gehirnentwicklung und seelischen Entwicklung erleiden. Demgegenüber erhalten Kinder, die emotionale Nähe erfahren, eine psychische Sicherheit, die sie auch für spätere schwierige Phasen resilient macht.

Der Grundstein für die Bindungsqualität eines Menschen entwickelt sich in den ersten beiden Lebensjahren, das Thema bleibt aber insgesamt in den ersten fünf, sechs Jahren besonders wichtig.

Während ein drei Monate alter Säugling sich noch nicht vorstellen kann, dass die Bezugsperson da ist, auch wenn sie nicht sichtbar ist, kann ein eineinhalb- bis zweijähriges Kleinkind sich dies bereits vorstellen – es kann die Bindungsperson internalisieren.

„Genügend gute Mutter“

Ob und wie stabil das Kleinkind diese Fähigkeit entwickelt hängt davon ab, wie liebevoll die Bezugsperson(en) in den ersten zwei Lebensjahren zur Verfügung stehen konnten.

Der Psychoanalytiker Donald Winnicott spricht in diesem Zusammenhang von der „genügend guten Mutter“ (was sich ebenso auf den Vater oder andere Betreuungspersonen übertragen lässt). Diese beantwortet die Bedürfnisse des Säuglings liebevoll, kontinuierlich, prompt und intuitiv.

Es genügt aber, wenn dies überwiegend gelingt – das heißt, es dürfen Fehler gemacht werden, die Bezugspersonen dürfen den Säugling auch mal nicht verstehen, ohne dass sich dies negativ auf die Bindungsqualität auswirkt.

Vier Bindungstypen

Die Bindungsforscher John Bowlby und Mary Ainsworth haben in den 1970er-Jahren verschiedene Bindungstypen untersucht.

Hierzu entwickelte Mary Ainsworth den Fremde-Situation-Test: Dabei bringt die Bezugsperson ihr zwölf bis 18 Monate altes Kleinkind in ein Wartezimmer, in dem auch eine fremde Person sitzt. Dann verlässt sie zweimal für einen kurzen Moment den Raum, um anschließend wiederzukommen und sich dem Kind zuzuwenden.

Die Beobachtung dieser Situationen führte das Forscherpaar zur Definition von vier Bindungstypen:

Sichere Bindung:

Eine sichere Bindung drückt sich dadurch aus, dass das Kind bei einer Trennung von der Bezugsperson mit Weinen reagiert. Es sucht die Nähe und Beruhigung durch diese, sobald sie wiederkommt.

Ein Kind mit einer sicheren Bindung konnte die kontinuierlichen und liebevollen Zuwendungen durch die Bezugsperson verinnerlichen. Es kann seine Gefühle ausdrücken und sucht in Stresssituationen aktiv die Nähe zur Bezugsperson, um sich beruhigen zu können und wieder sicher zu fühlen.

Ein Kind mit einer sicheren Bindung kann und mag sich aber auch nach und nach mehr von der Bezugsperson trennen, ohne dabei Stress zu empfinden.

Unsicher-ambivalente Bindung:

Eine unsicher-ambivalente Bindung drückt sich dadurch aus, dass das Kind sehr stark weint, wenn die Bezugsperson den Raum verlässt und sich auch kaum beruhigen lässt, wenn diese wiederkommt. Es sucht zwar einerseits die Nähe, ist und bleibt aber gleichzeitig wütend.

Bei der unsicher-ambivalenten Bindung konnte nicht genügend Sicherheit durch die Bezugsperson vermittelt werden, sodass das Kind kein sicheres Abbild der Liebe der Eltern verinnerlichen konnte. Dies kann passieren, wenn die Bezugsperson selbst keine sichere Bindung hat, wenn bei ihr eine psychische Störung vorliegt oder andere stark belastende Faktoren auftraten.

Ein unsicher-ambivalent gebundener Mensch kann nicht allein sein und klammert sich an andere Personen, ohne dadurch wirklich Sicherheit zu fühlen. Er kann Trennungen nicht aushalten.

Unsicher-vermeidende Bindung:

Bei der unsicher-vermeidenden Bindung zeigt das Kleinkind keine Reaktion, wenn die Bezugsperson den Raum verlässt. Es macht nach außen den Anschein, als könne es die Situation gut bewältigen und untersucht neugierig den Raum. Wenn die Bezugsperson zurückkommt, wendet es sich nicht Schutz und Sicherheit suchend an sie.

Diese Kleinkinder weisen aber ebenso wie die anderen einen hohen Cortisol-Spiegel auf, empfinden also durchaus Stress, den sie jedoch nicht sichtbar machen. Diese Kinder wurden vermutlich zu viel allein gelassen und konnten nicht verinnerlichen, dass sie sich auf die Bezugsperson verlassen können und diese ihnen Schutz und Sicherheit bietet.

Menschen mit einer unsicheren Bindung können alleine sein, jedoch ohne sich dabei gut zu fühlen. Sie haben Angst vor Nähe und vermeiden diese.

Desorganisierte Bindung:

Kinder mit einer desorganisierten Bindung zeigen bizarre Verhaltensmuster. Sie konnten keine Bindungsqualität entwickeln und reagieren in Trennungssituationen z.B. mit Schaukeln oder Erstarren und erleben enorm hohen Stress.

Diese Kinder haben traumatische und gewaltvolle Situationen mit ihren Bezugspersonen erlebt und sind dadurch unvereinbaren Widersprüchen der Bindungsperson gegenüber ausgesetzt. Sie haben einen dauerhaft erhöhten Cortisolspiegel.

Während sich bei den ersten drei Bindungstypen funktionierende Bewältigungsstrategien bei Trennung entwickeln konnten, ist dies beim desorganisierten Bindungstyp nicht möglich. Menschen mit einer desorganisierten Bindung können schwere Schädigungen erleiden und psychische Erkrankungen entwickeln.


Dieser Text ist zuerst im Newsletter „GL Familie“ von Laura Geyer erschienen. Er richtet sich an die Eltern (und Großeltern) jüngerer Kinder, hier können Sie ihn kostenlos bestellen.


Deshalb ist Bindung so wichtig

Durch all diese Erkenntnisse wird deutlich, dass die ersten Lebensjahre prägend sind für die weitere gesunde Entwicklung des Kindes. Es lohnt sich also tatsächlich sehr, in diese Zeit zu investieren.

Obwohl es die Bindungsforschung schon so lange gibt und sie auch heute mit namhaften Forschern wie Karl-Heinz Brisch fortgeführt wird, ist die große Bedeutung von Bindung nicht flächendeckend etabliert.

Die Kriegs- und Nachkriegsgenerationen wurden noch nach dem Vorbild der Nazi-Pädagogik von Johanna Haarer erzogen. Diese sah Härte vor, Säuglinge sollten schreien gelassen und bloß nicht verwöhnt werden.

Keine schädlichen Muster weitergeben

Bis heute werden diese Überzeugungen transgenerational weitergegeben. Es ist daher sehr wichtig, die eigenen Erziehungsvorstellungen und die eigenen Erfahrungen als Kind zu reflektieren, um keine schädlichen Muster weiterzugeben.

Eltern haben eine Intuition, auf die sie zurückgreifen können und die eine liebevolle Versorgung garantiert. Diese kann durch eigene schlechte Erfahrungen verstellt sein, kann aber durch Reflektion wieder freigelegt werden. Auch kann der eigene Bindungstyp ermittelt und ggf. ein Nachreifen durch Psychotherapie erreicht werden.

Wenn Sie also merken, dass sich etwas bei der Versorgung ihres Säuglings oder Kleinkindes nicht gut anfühlt, reden sie darüber. Reden Sie mit ihrem Partner, ihrer Partnerin darüber und holen Sie sich Hilfe, bei einer Beratungsstelle, einer Hebamme, einer Säuglings-Kleinkind-Eltern-Therapeutin oder einer Kinderärztin.

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Ich bin Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, psychoanalytisch und tiefenpsychologisch fundiert, im ersten Beruf bin ich Diplom-Kunsttherapeutin. Ich arbeite mit Säuglingen, Kindern, Jugendlichen und ihren Familien im Alter von null bis 21 Jahren, habe eine Weiterbildung als Säuglings-, Kleinkind-,...

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