Nach den Lockdowns im vergangenen Jahr erleben Schüler:innen im Moment einen Alltag zwischen Normalität und Ausnahmezustand, der einige von ihnen schwer belastet. Die Kinder- und Jugendtherapeutin Petra Wegener berichtet im Interview von den negativen, aber auch von positiven Auswirkungen der Pandemie.

Petra Wegener. Foto: privat

Frau Wegener, ein Alltag zwischen Normalität und Ausnahmezustand. Was macht das mit Kindern und Jugendlichen?
Petra Wegener: Viele freuen sich darüber, dass sie wieder mehr dürfen, dass die Schulen und Sportvereine auf haben. Aber genauso erleben wir hier in der Praxis mehr Ängste, sei es selbst zu erkranken oder andere anzustecken. Auch das Testen macht vielen Stress. Sie fragen sich jedes Mal: Was ist, wenn mein Test heute positiv ist?

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Viele von ihnen wollen trotzdem, dass die Schulen offen bleiben. Wie wichtig ist der soziale Kontakt zu den Mitschüler:innen?
Sehr wichtig. Gerade für Kinder und Jugendliche aus benachteiligten Familien ist das soziale Lernen in anderen Kontexten von großer Bedeutung. Aber es ist für alle Kinder gut, dass Schulen und Vereine geöffnet sind.

Wie haben sich die Lockdowns auf die jungen Menschen ausgewirkt?
Das hängt ein bisschen vom sozialen Umfeld ab. Kinder, die mit vielen Familienmitgliedern auf wenigen Quadratmetern zusammenwohnen, die von den Eltern kaum Unterstützung bekommen konnten, haben bis heute mit einem Lernrückstand zu kämpfen. Da geht die Schere jetzt deutlich mehr auseinander als früher.

Ansonsten haben wir in beiden Lockdowns von vielen Jugendlichen gehört, dass sie das Homeschooling eigentlich ganz gut fanden, dass sie mehr Ruhe hatten, besser lernen konnten. Wir behandeln hier aber auch viele Jugendliche, die soziale Ängste oder eine Leistungsproblematik haben. Ihnen ist es eher schwergefallen, danach wieder zurück in den Alltag zu finden.

Insgesamt beobachten wir, dass die Belastung der jungen Menschen diesen Winter deutlich zugenommen hat. Bei den vorherigen Wellen hatten sie das Gefühl: Da müssen wir jetzt noch einmal durch, dann ist es vorbei. Jetzt scheint das Ende des Tunnels nicht mehr in Sicht. Die Hoffnung schwindet.

Viele haben das Gefühl, dass ihnen ein Stück Zeit gestohlen wurde.

Petra Wegener

Wie äußert sich diese Belastung?
Besonders bei den Jugendlichen merken wir, dass Ängste, Einsamkeit, Depressionen, Zwänge, suizidale Gedanken zunehmen. Ich sage das allerdings mit Vorsicht: Wir führen keine Statistik über die psychischen Störungen in unserer Praxis, das sind subjektive Einschätzungen von mir und meinen Kolleg:innen.

Suizidgedanken? Gesprächs- und Hilfsangebote: Wer sich mit Suizidgedanken trägt, empfindet seine Lebenssituation als ausweglos. Doch es gibt Angebote zur Hilfe und Selbsthilfe, kostenlos und anonym. 

Die Nummer gegen Kummer für Kinder und Jugendliche ist unter 116 111 von Montag bis Samstag, 14 bis 20 Uhr erreichbar. Auch per Chat oder Mail. Die Telefonseelsorge ist immer erreichbar, unter 116 123. Auch per Chat.

In Rhein-Berg ist der Schulpsychologische Dienst ansprechbar, für Schüler:innen und Eltern. Telefon: 02202 13 9011, Mail, Website

Was bedeutet es für die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen, dass so viel weggefallen ist in den letzten zwei Jahren – gerade Meilensteine wie Abschlussfeiern oder Auslandsaufenthalte?
Viele versuchen, sich Alternativen zu suchen, Sachen nach der Pandemie zu planen. Aber es sind auch alltägliche Erlebnisse weggefallen, die man so nur in der Jugend hat: Partymachen, das Leben genießen, erste Liebeserfahrungen. Die kann man nicht einfach nachholen. Das sorgt bei vielen für Frust und Traurigkeit. Sie haben das Gefühl, dass ihnen ein Stück Zeit gestohlen wurde.

Ob das grundsätzliche Auswirkungen auf die Entwicklung hat, ist schwer zu beantworten. Es gibt noch keine jungen Erwachsenen, die das schon hinter sich haben. Bisher beobachten wir aber, dass die Jugendlichen dennoch ihren Weg gehen.

Kinder sind in der Lage, sich schnell an neue Umstände anzupassen.

Petra Wegener

Jetzt kann wieder mehr stattfinden, Treffen in größeren Gruppen sind wieder möglich – aber ist es auch möglich, zu der alten Unbeschwertheit zurückzukehren?
Schwierig. Bei vielen Kinder, Jugendlichen und auch Erwachsenen schwingt Corona immer mit. In Form eines schlechten Gewissens, in Form von Ängsten, nicht genug aufzupassen, jemanden anzustecken. Viele sind deutlich verhaltener. Ich denke aber, dass die Unbeschwertheit irgendwann zurückkommt. Menschen und vor allem Kinder sind in der Lage, sich schnell an neue Umstände anzupassen – im Negativen wie im Positiven.

Viele sagen, sie haben vor allem Angst, andere anzustecken. Kinder werden auch immer wieder gerne als Pandemietreiber bezeichnet. Sollten junge Leute so viel Verantwortung fühlen?
Wir alle haben bisher insgesamt ein sehr unbeschwertes Leben geführt. Es kann sogar etwas Positives daraus hervorgehen, wenn Kinder lernen, mehr Verantwortung für sich und ihre Mitmenschen zu übernehmen.

Wichtig ist aber, als Eltern zu sagen: Es ist gut, dass du das machst, aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Wenn das Verantwortungsgefühl zu weit geht, kann es in Ängste und Zwänge umschlagen.

Von der Politik werden die Schüler:innen ein bisschen wie Spielbälle behandelt; jetzt sind zum Beispiel die Schulen auf, obwohl die Zahlen viel höher sind als zu Lockdown-Zeiten. Was die Kinder selbst wollen, fragt in der Regel niemand. Kann man sich da ernst genommen fühlen?
Für jüngere Kinder ist das weniger ein Problem. Jugendliche haben sicher eher das Gefühl, übergangen zu werden. Es ist aber auch schwierig, alle Vorstellungen unter einen Hut zu bringen. Das erleben wir schon hier in der Praxis im kleinen Rahmen: Einer will wieder ins Homeschooling, der andere auf jeden Fall im Präsenzunterricht bleiben.

Allerdings entscheiden Kinder und auch Jugendliche noch viel danach, wie die Eltern mit dem Thema umgehen. Wenn diese zum Beispiel klar sagen, wir finden es nicht toll, Masken zu tragen, aber da müssen wir jetzt alle durch, dann stärkt das die Kinder. Je souveräner die Eltern versuchen, mit der Situation umzugehen, desto besser können es auch die Kinder.

Es ist das erste Mal, dass wir alle eine weltweite Krise erleben.

Petra Wegener

Haben die jungen Menschen mehr Zukunftsängste als früher?
Das hat bei den Jugendlichen zugenommen, ja. Sie erleben eine große Ungewissheit, wissen nicht, ob sie ihre Ausbildung oder ihr Studium planen können, ob sie einen Praktikumsplatz finden. Hinzu kommt ein höherer Leistungsdruck. Das haben wir schon vor der Pandemie beobachtet. Die Lockdowns haben es aber nochmal zugespitzt, weil der Lernstoff komprimiert wurde, weil Lehrer jetzt unter Druck versuchen, den Lehrplan durchzuboxen. Das macht auch vielen Jugendlichen Stress.

Jüngere Kinder leben mehr im Hier und Jetzt. Sie haben eher Angst, dass der nächste Test in der Schule positiv wird, sind sauer oder enttäuscht, wenn die Eltern sagen, du darfst heute nicht mit deiner Freundin spielen.

Was haben diese Erfahrungen langfristig für Auswirkungen? Wächst da eine verlorene Generation heran?
Das ist schwierig zu sagen. Dafür läuft die Pandemie noch nicht lange genug. Es ist das erste Mal, dass wir alle, Eltern, Kinder und Jugendliche, eine weltweite Krise erleben. Dadurch spüren wir aktuell eine starke Verunsicherung. In vorherigen Generationen gab es so etwas aber schon immer wieder. Wir hier in der Praxis glauben nicht, dass das unbedingt dramatische langfristige Folgen haben wird. Es ist auch besser, davon nicht auszugehen – das würde unsere Kinder noch mehr verunsichern.

Hat sich auch etwas zum Guten verändert?
Ja! Gerade am Anfang haben wir von vielen Familien gehört, dass sie enger zusammengerückt sind. Man hatte mehr Zeit füreinander, weniger Stress, hat sich auf andere, wesentliche Dinge fokussiert. Auch die Familien, in denen es nicht immer einfach war. Die Lockdowns waren wie eine erzwungene Auszeit.

Vielen Dank für das Gespräch!


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ist freie Reporterin des Bürgerportals. Geboren 1984, aufgewachsen in Odenthal und Schildgen. Studium in Tübingen, Volontariat in Heidelberg. Nach einem Jahr als freie Korrespondentin in Rio de Janeiro glücklich zurück in Schildgen.

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2 Kommentare

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  1. …..die Kinder und Jugendlichen sind die Verlierer der Pandemie. Da sieht man was passiert wenn man sagt: Wir müssen die Alten schützen! Und was hat man gemacht? Die Jungen „weggesperrt“. Ich hoffe für uns alle, das uns dieses Vorgehen nicht extrem vor die Füße fällt. Ich habe vollstes Verständnis für die Jugend und fordere schnellstens die Maßnahmen zu überdenken.